Redensarten
Glosse
Warum wir immer «nur Bahnhof» verstehen sollen
Von Jürg-Peter Lienhard
Sie habe «nur Bahnhof» verstanden, als der Gerichtspräsident
eine überdeutliche Frage an die türkische Angeklagte richtete, schrieb
jüngst die Gerichtsberichterstatterin der «Basler Zeitung». Selbst der
brasilianische Libero des FC Basel soll «nur Bahnhof» verstehen, empörte
sich letzthin ein anderes Lokalblatt. Ja auch das Zürcher Frauenmagazin
«annabelle» hat auch schon mal in einer Inseratenkampagne «nur Bahnhof»
kapiert; ebenso wie der «seriöse» deutsche «Spiegel».
Warum verstehen die wohl alle «nur Bahnhof», und nicht etwa
«Schrebergarten» oder «Donnerbalken», zumal der absurde Begriff ja
keinen Sinn «macht» und schon gar keinen «hat»?...
Der «Bahnhof» hat einen höchst banalen Ursprung und beweist, wie
sinnloses Nachplappern verheerende Auswirkungen im gepflegten
Sprachgebrauch haben kann. Er wurde kreiert in einer üblen
Stammtischrunde Ende der sechziger Jahre in der längst verschwundenen
«Alten Bayrischen Bierhalle» zu Basel. Die Runde wurde beherrscht von
Gymnasiasten-Söhnchen neureicher Herkunft und deren zugewandter Orte aus
Unterschicht-Kreisen.
Schwarzfahren und Zechprellen
Als Oberguru dieser stets grossmännisch bechernden, aber chronisch unter
Geldmangel leidenden, Clique trat ein zynisch verbrämter Komiker auf,
der später wegen qualifiziertem Betrug eine mehrjährige Zuchthausstrafe
absitzen musste. Mit von Partie war sein «Faktotum», ein bereits in
jungen Jahren gestrandeter Gelegenheitsarbeiter und begabter
Spielsalonprofi.
Die Streiche des Duos - Mundraub, Zechprellerei und andere Scherze auf
Kosten als «arbeitsam» verlachten Mitmenschen - wurden von der
Becher-Runde stets mit grösstem Vergnügen und zynischem Genuss tagelang
kolportiert.
So auch ein «Ausflug» ins Tessin, den die beiden als Schwarzfahrer und
Zechpreller «organisierten». Wie gewöhnlich, wenn es ums Herausfischen
«heisser Kohlen» ging, schickte der Guru sein Faktotum vor, um den
nächsten Ort beabsichtigter «Aktivitäten» auszukundschaften. Derweil
beobachtete er dessen Auskunftsbegehren bei einem Passanten in sicherer
Entfernung auf der Terrasse eines Espresso-Cafés.
«Stazione» heisst eben Bahnhof
Sehr, sehr lange, habe es gedauert, dieses intensive Gespräch mit dem
Italienisch sprechenden Einheimischen und dem dieser Sprache nicht
mächtigen «Kundschafter». Je länger es dauerte, desto grösser habe ihm
die Ausbeute der Informationen geschienen, schilderte der Guru sein
Erleben während des ungeduldig ertragenen Wartens. Schliesslich sollen
sich die beiden «wortreich gestikulierend» verabschiedet haben.
Neugierig erwartete der Guru Auskunft, was der Inhalt des langen
Auskunftsgesprächs über den gesuchten Weg gewesen sei, der offenbar an
der «Stazione» vorbeiführen musste. Sie habens erraten: Sein Kuli
antwortete tatsächlich: «Ich habe nur 'Bahnhof' verstanden!»
Überflüssig zu ergänzen, dass fortan während Wochen die Serviertochter
der «Alten Bayrischen Bierhalle» mit dem Spruch «ich verstehe nur
Bahnhof» terrorisiert wurde, wenn sie die Bierrechnung einkassieren
wollte. Und überflüssig festzustellen, dass der «Bahnhof» seither aus
einem kleinen biertrinkenden Schuleschwänzerkreis in die vornehmsten
Gazetten der deutschsprachigen Welt Einzug hielt - als Papageienspruch...
Jürg-Peter Lienhard
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