Das Webjournal von


Jürg-Peter Lienhard

Journalist BR/Photoreporter


Artikel

Elsass

Region Basel

...und ausserdem
Für Sie

Dienstleistungen

Newsletter

Wird nur für Top-News versandt!

Geben Sie Ihre eMail-Adresse ein: (Beispiel: meier@email.ch)

Abonnieren

Abbestellen



Kontakt



Download von Acrobat Reader

Acrobat Reader herunterladen

Musikwissenschaft

Boulez an Cage:

«Mach‘s wie die Barbaren!»

Neuauflage der Korrespondenz - Weckt Verständnis für die abendländische Musik des 20. Jahrhunderts - Kostenbeitrag der Paul-Sacher-Stiftung vergünstigt das Werk

Von Jürg-Peter Lienhard

Die 1990 erstmals in Buchform veröffentlichte Korrespondenz zwischen Pierre Boulez und John Cage erlebt eine Neuauflage: Soeben hat der Musikverlag Schott, in Zusammenarbeit mit der Paul-Sacher-Stiftung in Basel, eine ergänzte und neu durchgesehene Fassung herausgebracht.

Der Briefwechsel zwischen den beiden Komponisten in den Jahren 1949 bis 1954 sind Dokumente von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der abendländischen Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Brief um Brief werden ihre aus unterschiedlichen Sichtweisen und geistigen Interessen stammenden technischen und ästhetischen Bedenken sichtbar, die einerseits ein hochstehendes Bild des Kulturschaffens in Europa und in den Vereinigten Staaten abgeben sowie andererseits ein sich daraus entwickelndes stetes Auseinandergehen ihrer Gemeinsamkeiten bis zur Unvereinbarkeit aufzeigen.

 

Boulez/Cage-Briefe: Dank Druck-Beitrag im Handel günstiger.

Foto: J.-P. Lienhard

 

Seinerzeitige Auflage längst vergriffen

 

Die jetzt erschienene Neuauflage der Korrespondenz fusst auf der ebenfalls von der Paul-Sacher-Stiftung 1990 erstmals im Winterthurer Amadeus-Verlag herausgegebenen des francokanadischen Musikwissenschafters Jean-Jacques Nattiez, die seinerzeit unter Mitarbeit von Françoise Davoine, Hans Oesch und Robert Piencikowski zustandekam. Seither sind die französisch oder englisch verfassten Briefe und Dokumente des Franzosen Boulez und des Amerikaners Cage zwar in verschiedene Sprachen übersetzt worden, jedoch ist die seinerzeitige Auflage längst vergriffen.

Noch zu Paul Sachers Lebzeiten, der im Mai 1999 als 93jähriger in Basel verstarb, waren sich die Mitarbeiter der von ihm finanzierten Stiftung für die Erforschung moderner Musik einig, dass die Bedeutung der Korrespondenzsammlung Boulez/Cage von derartiger Wichtigkeit ist, dass sie eine Neuauflage erfahren sollte.

Die ebenfalls von Nattiez editierte Neuauflage ist jedoch vom Musikwissenschafter Robert Piencikowski von der Paul-Sacher-Stiftung neu durchgesehen und mit einigen wesentlichen Ergänzungen versehen worden. So etwa hat Piencikowski einen jüngeren Text von Boulez aufgespürt und mitveröffentlicht (mit Datum von 1982). In diesem Dokument kommt Boulez‘ Hochachtung gegenüber Cage trotz aller musikalischer Divergenzen zum Ausdruck und könnte selbst von einem Poeten nicht schöner gesagt worden sein:

 

Wahrhaft deutliche Worte

 

«Je te choisis, et je te propose, comme le modèle des Barbares, de ceux qui détruisent allègrement ce que nos civilisations ont de fatigué, de superflu, d‘assuré - de ceux, donc, dont on ne peut pas se passer. Mais ta barbarie ne va pas sans humour, ce qui la rend tout à fait supportable!

Garde-nous longtemps ce trésor de fraîcheur: c‘est à cette seule condition que je te souhaite many happy returns.»

Diese wahrhaft deutlichen Worte an die Adresse der musikalischen Ignoranten benutzte Boulez am 23. September 1982 in seinem Text aus Anlass der Nomination von John Cage in den Rang eines «Cheva-liers des arts et lettres». Cage starb zehn Jahre später.

Mitunter schreiben sich die beiden in der jeweiligen Muttersprache des andern, was häufig radebrechende Grammatik und Formulierungen zur Folge hat, wozu sich die Briefeschreiber zu Beginn ihrer Texte gerne selbstironisch entschuldigen. Nebst den vielen technischen Erläuterungen schreiben sie sich auch mal was ganz Privates oder freuen sich über bevorstehende Reisen; ja selbst schrägen Humor teilen sie sich mit: Etwa wenn Boulez Cage schildert, dass ihr gemeinsamer Freund Armand Gatti seinen Neugeborenen «Civil War» taufen wollte, was (glücklicherweise) der Bürgermeister abgelehnt hat. Auch dass Cage keineswegs blind gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Realität war, kommt in einem seiner Briefe ironisch formuliert zum Ausdruck. Indem er schildert, dass er einen Phantom-Verein namens «Capitalist Inc.» gegründet hat: «So that we will not be accused of being Communists». Dies tönt die fürchterliche MacCarthy-Aera in den USA an, als viele Künstler ihrer progressiven Ideen wegen als «Kommunisten» verdächtigt und kaltgestellt oder gar ins Exil verbannt wurden (wie etwa Charles Chaplin).

 

Der Basler Musikwissenschafter Robert Piencikowski hat die Neuauflage der Boulez/Cage-Briefe aktualisiert und neu kommentiert.

Foto: J.-P. Lienhard

 

Überholte Argumente


Die Neuauflage verschiebt allerdings das frühere Vorwort von Jean-Jacques Nattiez in den Anhang. Nattiez hatte zwar in der ersten Ausgabe dezidiert für Boulez Stellung bezogen, aber seine Argumente sind inzwischen etwas überholt. Die Gelegenheit einer Neuedition nimmt der Boulez-Kenner Robert Piencikowski zum Anlass, die Korrespondenz-Interpretation aus einer anderen Perspektive zu betrachten - was dem Verständnis der Briefeschreiber zugutekommt, indem er die musikalische Entwicklung der beiden viel distanzierter schildert.

Neu sind auch etliche Illustrationen: Photos, Briefe, sowie Partituren. Letztere auch als Reproduktionen der Originalhandschriften, wobei am Beispiel eines einzigen, für den Betrachter ungenügenden Lithos ersichtlich wird, wie wertvoll ein Archiv auf Platz für die Buchmacher ist: Das Cage-Archiv in Evanston schickte ein fast unbrauchbares Dia; wäre das Original in Basel vorhanden gewesen, das Buch wäre makellos hergestellt worden. Doch dieses einzige vermasselte Cliché tut der ansonsten äusserst augenfälligen Buchproduktion keinen Abbruch.

Die bei Schott herausgekommene verbesserte und ergänzte Neuauflage kommt denn als Luxusausgabe daher - auf Hochglanzpapier, in Leinen gebunden mit einem vornehm in Blau gehaltenen Umschlag mit den überblendeten Handschriften der beiden Komponisten. Dennoch kostet das Buch im Handel nur 42.90 Franken - dank grosszügigem Druckbeitrag der Paul-Sacher-Stiftung. Es trägt daher auch den Untertitel «Veröffentlichungen der Paul-Sacher-Stiftung, Band 1».

 

Jürg-Peter Lienhard

Nach oben
 

© Copyright Jürg-Peter Lienhard, Basel (Schweiz)
Design by Silvia Ulenberg, Straelen (Deutschland)