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Artikel vom: 31. Oktober 2003
Musikmarkt
Ligeti- und Pygmäen-Lektion
Wie die zehn kleinen Negerlein…
Basler Musik-Forum präsentierte durch
Pierre-Laurent Aimard Klavieretüden von Ligeti und mit Simha Arom
Aka-Pygmäen-Gesang. Und ein paar böse Gedanken dazu.
Von Jürg-Peter Lienhard
Da soll mir noch
einmal einer kommen mit «Näger-Musik»! Überhaupt
stellt sich die Frage, wo der Nabel der Musikwelt sitzt: In Wien, in
London oder Tokyo, ja vielleicht gar in Zentralafrika? Wahrscheinlich,
so will ich meinen, sitzt er tief im afrikanischen Dschungel bei den
Aka Pygmäen: Eine Gruppe von ihnen gab am 30. Oktober 2003 ein von
Simha Arom kommentierter «Workshop» im Rahmen des Basler Musik-Forums
der AMG im Stadt-Casino.
Musikpädagogie war am 30. Oktober 2003 im Musiksaal des
Stadt-Casinos Basel angesagt. Gleich zwei intensive Lektionen mussten
die Besucher des Basler Musik-Forums der Allgemeinen Musikgesellschaft
Basel (AMG) aushalten. Zunächst stellte der Beethoven- und Messiaën-Spezialist
Pierre-Laurent Aimard sieben Klavier-Etüden von György Ligeti
vor. Jeweils im Duo- oder Triopack erklärte der Franzose radebrechend
dem Publikum die Zählweise, die Pulsation und die Verzahnung der Rhythmen
der Etüden: Nr. 7 Galam Borong, Nr. 8 Fém («Metall»),
Fanfares («Fanfaren»), Nr. 12 Entrelacs («Geflecht,
Verschlingungen»), Nr. 1 Désordre («Unordnung»),
Nr. 11 En suspens («In der Schwebe») und Nr. 13 L‘Escalier
du Diable («Die Teufelsleiter», oder genauer: das Tretrad).
CD «African Rhythms» von Ligeti und
Reich
Ausgangspunkt für die Darbietungen am Musik-Forum war die
vor kurzem erschienene CD mit dem Titel «Ligeti/Reich. African
Rhythms». Auf dieser Scheibe ertönen sehr aufregende und
faszinierende Vokal- und Schlagzeugstücke aus Zentralafrika neben
nicht minder verblüffenden Klavierstücken aus György
Ligetis späten Etüdenheften, umrahmt von rhythmischen Kunststücken
Steve Reichs und dessen Minimal Music.
Im Programm dieses AMG-Musik-Forums nicht vertreten war indessen
Steve Reich. Schwerpunkt war die raffinierte, komplizierte afrikanische
Mehrstimmigkeit, welche Ligeti zu seinen Etüden anregte. Die
musiktheoretischen Erläuterungen Aimards mochten zwar einige Einblicke
in Ligetis Kompositionstechnik geben, störten hingegen als Unterbrechung
eines sinnlichen Zuhörens der Stücke. Immerhin ist Aimard
ein phantastisch begabter Fingertechniker, der die hochkomplexen Notationen
Ligetis mühelos bewältigte und darum auch mit überschwänglichem
Beifall des Publikums bedacht wurde.
Die Aka-Pygmäen haben über Jahrtausende
eine hohe Gesangskunst entwickelt: Gesänge für eine erfolgreiche
Jagd, Beschwörungen der Ahnen und zarte Sehnsuchtsgesänge der
Frauen an ihre zu lange auf der Pirsch abwesenden Männer. Alle Fotos:
J.-P. Lienhard, Basel © 2003
Entmystifizierende Ethno-Lektionen
Gleichwohl war der musikpädagogische «Vorspann»
gewissermassen eine Voraussetzung für die nachfolgende Darbietung
einer Truppe zentralafrikanischer Pygmäen - Damen und Herren in
ihrer heimatlichen Bekleidung. Der angesehene französische Musikwissenschafter
Simha Arom übernahm die Vorstellung der farbenprächtigen Gruppe
und den jeweils einführenden Kommentar zu jedem Gesangsausschnitt.
«Ausschnitt» deswegen, weil wohl «original» dieser
Gesang, Tanz und Trommelmusik stundenlang dauert und spirituelle Beschwörung
und Trance erzeugt.
Arom zählte jeweils vor den kurzen Ausschnitten die Takte
- zwölf an der Zahl - die jeweils in Vierer-, Achter- und Zwölferschritten
ineinanderverzahnen, und für das ungeübte europäische
Ohr wie ein monotoner Singsang, eine Klangsuppe fast, tönen mögen.
Doch weit gefehlt: Als «hohe Mathematik» hat György
Ligeti den Aufbau der Aka-Pygmäen-Gesänge bezeichnet. Das «Einfache
und das Komplexe» falle im Gesang der afrikanischen Musiker auf
faszinierende Weise zusammen.
Hochkomplexe Mehrstimmigkeit
Der grosse Meister mit seinen Pygmäen: Simha Arom
erläutert die hochkomplexe Zählweise, welche die Pygmäen
«nicht wissentlich kennen, aber dennoch tun». Foto:
J.-P. Lienhard, Basel © 2003
Auf der Bühne nahm Arom die einzelnen Stimmen «auseinander»,
ging gar mit einem Mikrophon von einer Dame, von einem Herrn zum anderen
der Gesangsgruppe und verstärkte, also hob heraus, die Stimme
des jeweiligen Sängers. Dadurch hörte man sehr gut, wie jeder
Sänger oder Sängerin ihre eigene Stimmlage sang und die «Klangsuppe»
aus einer hochkomplexen Merhstimmigkeit bestand. Der Musikwissenschafter
Claus Spahn beschreibt diese verblüffende Verquickung von Simpel und
Komplex in der Hamburger «Zeit» so: «Wer die betörende
Einheit aus Gesang, Tanz, Trance und ritueller Beschwörung wahrgenommen
hat, der wird auch etwas anderes wahrgenommen haben als verwirrenden
Kontrapunkt und polyrhythmische Schichtungen: etwas, das unserer Musik
abhanden gekommen scheint, eine spirituelle Energie, für die wir
gar keinen Begriff kennen.» Und: «Was Ligeti rhythmisch in
seinen equilibristischen Klaviretüden verarbeitet, haben die afrikanischen
Eingeborenen mit ihrer Hoquetus-Gesangstechnik schon den ägyptischen
Pharaonen vorgesungen.»
Begeistertes Publikum
Das Publikum war begeistert, ja geradezu hingerissen.
Manche standen gar auf, um besser sehen zu können, wie die Damen
und Herren Pygmäen ihre eigentümlichen Instrumente «bedienten»:
Da erklärte Arom, dass es sich bei einem gebogenen Stück Baumstamm,
der mit einem einzigen Faden gespannt ist, als «Mutter aller Saiteninstrumente,
von der Violine bis zum Stainway» handle. Und dass auch die tief
tönenden Trommeln «Mutter» heissen, wie auch alles, was
bei den Pygmäen auf einen Ursprung hinweist, «Mutter»
heisst.
Die «Mutter aller Saiteninstrumente»
stammt aus Zentralafrika; eine höchst witzige Technik ermöglicht
die einzige Saite zu stimmen und zu bespielen: Der Mund als Resonanzkörper,
ein Stecklein, das auf den Faden gehalten wird und womit die Saite gestimmt
wird; ein anderes Stecklein, womit die Saite angeschlagn wird - tönt
übrigens sehr schön! Foto:
J.-P. Lienhard, Basel © 2003
*****
Na, da haben wir eigentlich längst vergessen,
was bei uns «Mutter Erde» einmal bedeutete und versündigen
uns an der «Umwelt» allein schon deswegen, weil wir die «Mutter»
entmündigt haben… «Was Ligeti rhythmisch in seinen equilibristischen
Klaviretüden verarbeitet, haben die afrikanischen Eingeborenen
mit ihrer Hoquetus-Gesangstechnik schon den ägyptischen Pharaonen
vorgesungen», sagt der Musikwissenschafter Spahn. Mit anderen
Worten: Was Ligeti heute klimpert, haben die Urururgrossmütter der
Neger schon Jahrtausende zuvor auf dem Nachthäfeli gesummt…
Und so kommen einige Naseweise aus Europa und glauben, die Mutter
aller Musik «entdeckt» zu haben. Flugs werden etwas mehr
als zehn kleine Negerlein in die heiligen Musentempel importiert und ausgestellt,
wie weiland im Basler Zolli. Wohl staunend blickten die schneeweiss bemalten
Büsten Beethovens, Haydns, Mozarts und wer sie alle sein mögen,
von den marmorillusionistischen Wänden des Stadtcasinos auf die in
Baströckchen und Lendenschürzen bekleideten schwarzen Pygmäen-Damen
und -Herren.
Artig warteten die kleinen Leute, bis der grosse Meister ihnen
das abgezählte Zeichen gab, denn weder deutsch noch französisch
spricht man im Urwald südlich der Sahara, wo dieses Nomadenvolk
der Akas zuhause ist, «noch immer weitgehend isoliert von westlicher
Zivilisation, wo sie von der Jagd und vom Honigsammeln leben».
Isoliert von der «westlichen Zivilisation», will uns das
drei Franken teure Programmheft des Basler Musikforums der AMG weismachen:
Aber den Honig der westlichen «Zivilisation» geleckt haben sie
zumindest im Stadt-Casino und im Messeturm-Hotel.
Und schon reisen sie auf Tournee im Bus, der sinnigerweise mit
«Appenzellerland» angeschrieben ist, ihre ursprüngliche
spärliche Bekleidung im Requisitenkoffer, Walkman im Ohr und Handy
im Jeans-Hosensack, mit Sicherheit vom Veranstalter übers Ohr gehauen,
aber nicht mehr «isoliert von der westlichen Zivilisation»,
sondern als deren Opfer! Da warens nur noch…wieviele oder wiewenige?
Jürg-Peter Lienhard
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