16.03.1995 - Philosophie
Zum Nachlass von Albert Schweitzer
«Schweitzer gilt als Erfinder der Oeko-Ethik»
Interview mit dem Philosophen Stefan Brotbeck über das
Verhältnis «junger» Philosophen zu Albert Schweitzer
Von Jürg-Peter Lienhard
Der Basler Philosoph Stefan Brotbeck gehört mit seinen 32 Jahren
zur jüngsten Doktoranden-Generation, die soeben ihre
Universitätsausbildung abgeschlossen hat. Die spontanen Antworten auf
eine kurze telefonische Befragung belegen, dass die junge Generation
Schweitzer in seiner Bedeutung nicht verkennt.
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Junges Denken fusst stets auf alten
Philosophien, und diese bleiben auch meist hochaktuell: Stefan Brotbeck,
Philosoph, schätzt Albert Schweitzers Philosophie.
Foto: J.-P. Lienhard,
Basel © 2003 |
Jürg-Peter Lienhard: Was weiss die jüngere Philosophen-Generation von
Albert Schweitzer?
Stefan Brotbeck: Obwohl Schweitzer von der akademischen Fachphilosophie
kaum rezipiert wird, lernte ich ihn als vorbildlichen Anreger kennen.
Insbesondere was seine um die Mitgeschöpflichkeit erweiterte Ethik
betrifft. Also das Verhältnis von Mensch zu Natur, Tieren und Pflanzen,
was man heute als «Öko-Ethik» bezeichnet, von ihm aber schon vor 70
Jahren betont wurde...
Jürg-Peter Lienhard: Wie stiessen Sie auf Schweitzer?
Stefan Brotbeck: Ja, das ist interessant: Als ich ihn kennenlernte, war
er der «Lambarene-Urwalddoktor». Vorbildlich, «halbgottartig»,
«legendär». Dann begegnete ich ihm über die Musik, als Bach-Interpreten.
Und erst viel, viel später als Philosophen.
Jürg-Peter Lienhard: Welches sind die für Sie bedeutenden Merkmale
Schweitzers?
Stefan Brotbeck: Er ist hervorgestochen durch seinen Versuch, unser
kulturelles und zivilisatorisches Selbstverständnis, unsere
Weltanschauung, besonders die europäische, zu hinterfragen und auf die
ethische Substanz hin abzuklopfen. Schweitzer interessieren die Probleme
nicht argumentativ-analytisch, sondern er bezieht das, was er macht,
immer auf eine gewisse Praxis. Auf die Lebbarkeit der sogenannten
philosophischen Weltanschauung, die er vertreten möchte. Er wird
übrigens auch eher von den Theologen gelesen und diskutiert.
Seine Gedanken sind zwar stark religiös inspiriert. Aber nicht etwa,
indem er Dogmen von Religionen übernimmt und sie philosophisch verbrämt,
sondern die Religionen selber wiederum auf die ethischen Grundprämissen,
die sie haben, untersucht.
Jürg-Peter Lienhard: Was erwarten Sie von seinem Nachlass?
Stefan Brotbeck: Viele Nachlässe werfen ein vollkommen anderes Licht auf
das bisher veröffentlichte Werk. Nietzsches Nachlass beispielsweise ist
eigentlich viel explosiver als seine von ihm selbst publizierten Werke.
Interessant ist dabei der Weg, wie Gedanken formuliert und entwickelt
werden.
Der Schweitzer-Nachlass zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Chance, der
Neutralisierung durch die «Urwalddoktor»-Verkitschung entgegenzuwirken.
Er könnte der Anstoss sein, Schweitzer wieder zu lesen und seine
Gedanken zu beleben.
Jürg-Peter Lienhard: Welche Berührungspunkte Nietzsche/Schweitzer fallen
Ihnen auf - Schweitzer hat ja 1900 einen Nekrolog auf Nietzsche gehalten
(*)?
Stefan Brotbeck: Was Nietzsche in der Christentumskritik
«Lebensfeindlichkeit» bezeichnet, sucht Schweitzer mit der «Ehrfurcht
vor dem Leben» anders zu finden. Während hier zwei verschiedene
Interpretationen des Christentums zusammenzuprallen scheinen, liesse
sich doch eine Kritik des positiv-dogmatischen Christentums mit beiden
Denkern formulieren. Ich bin gespannt!
Interview: Jürg-Peter Lienhard
(*) Anm.: Das Nietzsche-Nekrolog-Manuskript ist nicht mehr auffindbar.
Aber nach Meinung der Schweitzer-Biographen ist davon sehr
wahrscheinlich manches enthalten in Kapitel XV von Kulturphilosophie II
(«Kultur und Ethik», 1923).
Lesen Sie auch:
Hauptartikel: Auf der Suche nach einer «Ethik für alles Lebende»
Interview mit seinem Biographen Johann Zürcher
Lexikographie
Die Werke aus dem Nachlass Albert Schweitzers werden vom Verlag C.H.
Beck, München, verlegt.
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