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Industriegeschichte

Mülhausen/Mulhouse war das «Manchester des Festlandes»

Der Stolz der Industriegründer waren ihre Sammlungen

Alle zehn Mülhauser Museen dokumentieren fast lückenlos eine ganze Epoche der Zivilisationsgeschichte am Oberrhein.

Von Jürg-Peter Lienhard

Die Museen Mülhausens sind tatsächlich nicht wie die anderen. Während die Museen der grossen französischen Städte jeweils alle Facetten der Geschichte und Kultur der letzten tausend oder gar zweitausend Jahre zu streifen versuchen, beherbergen Mülhausens Museen nahezu lückenlose thematische Sammlungen. Diese illustrieren, ebenfalls fast lückenlos, die spannende Geschichte einer innovativen Industrie-Region, deren Entwicklung noch keineswegs zu Ende ist.

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Die Mülhauser Museen sind vom Umfang ihrer Sammlungen und von den Themen her gesehen einzigartig in Europa. Zudem befinden sie sich geographisch alle in einem nahen und relativ rasch erreichbaren Umkreis. Sie nehmen mit jährlich rund 800'000 Besuchern den ersten Platz unter den meistbesuchten Museen Frankreichs ein (Paris ausgenommen).

Die Sammlungen sind alle eng mit der industriellen Geschichte Mülhausens, zumal jener der Textilindustrie, verbunden. Und zwar betrifft dies nicht nur das Eisenbahnmuseum, sondern auch das aus der ehemaligen Sammlung der Textilindustriellen Schlumpf hervorgegangene Nationale Französische Automobilmuseum.

 

Französiche Revolution löste technische aus

 

Die industrielle Geschichte Mülhausens und seiner technischen Museen ist einmalig. Mülhausen war, bis es nach der französischen Revolution im Jahr 1798 an Frankreich fiel, eine der schweizerischen Eidgenossenschaft zugewandte protestantische Freistadt innerhalb einem mehrheitlich habsburgisch gesinnten katholischen Hinterland.

Durch die Eingliederung in die französische Republik öffnete sich für Mülhausen das gesamte elsässische Hinterland und machte damit Anfang des 19. Jahrhunderts erst eine rasante industrielle Entwicklung der Stadt möglich. Sehr bald waren alle Industriezweige vertreten, angefangen vom Maschinenbau bis hin zur Spinnerei, Weberei und zum Stoff- und Papierdruck. Die Konzentration der Textilindustrie verschaffte zeitweise Mülhausen den Übernamen «Manchester des Kontinents».

 

Vettern und Basen in Basel

 

Auffallend ist die enge Verbindung der Industriegründer mit der «Quasi- Nachbarstadt» Basel, die in nur rund 25 Kilometer Entfernung eine ebenso rasante Entwicklung - zumal in der Seiden- und Textilfabrikation - durchmachte. Familiennamen wie Heilmann, Koechlin, Dollfus, Mieg, Sarasin, Du Barry, Sandoz usw. sind Geschlechter, die sowohl in Mülhausen als auch in Basel als Industriegründer wirkten.

Die Tätigkeit dieser Familien, welche sich die Grenznähe geschickt zunutzen machten sowie die fast zeitgleiche Prosperität der beiden Städte Basel und Mülhausen führte zum Bau der ersten internationalen Eisenbahnlinie der Welt. Der grosse Bedarf an textilen Farbstoffen in diesem grenzüberschreitenden Industriebecken förderte die Entwicklung der chemischen Industrie auf beiden Seiten der Landesgrenzen. Zumal im ausgehenden 19. Jahrhundert in England die Erfindung der Anilin- oder Teerfarbstoffe die Textilveredelungs-Industrie revolutionierte.

 

Basler haben Reichtum Mülhausen zu verdanken

 

Weil diese neuen Farbstoffe aus patentrechtlichen Gründen in Frankreich nicht hergestellt werden durften, wich man nach Basel zu den verwandten Vettern und Basen, Cousins und Cousinen aus. Überspitzt gesagt, darf man heute behaupten, der von der Basler Chemie ausgehende Reichtum ist den Mülhauser Industriegründern zu verdanken... Die beiden Weltkriege, zumal der Zweite Weltkrieg, bewirkten in der Mülhauser Industrie eine deutliche Zäsur in deren Entwicklung, die aber heute nach etlichen jüngeren Strukturwandlungen wieder kräftig am Voranschreiten ist.

Die Mülhauser Industriellen waren sich schon damals dessen bewusst, dass ihre Innovationskraft Epochen zu überdauern vermochte. Darum betrieben sie seit dem beginnenden 19. Jahrhundert eine beinahe akribische Sammeltätigkeit von Proben ihrer Produktion. Und früh auch legten sie den Grundstein für Museen, die heute fast lückenlos Aufschluss über die industrielle und technische Entwicklung zu vermitteln imstande sind. Gleichzeitig dienen diese Museen quasi als «Datenbank» für Gründungen neuer Unternehmen und zur Veranschaulichung des Panoramas städtischer Fabriken.

Zusammen mit der typischen Backsteinarchitektur der Fabriken und den fabriknahen Arbeiterwohnungen - darunter die weltberühmte «Cité Ouvrière», der ersten, vorbildlichen Sozialsiedlung von Mitte des 19. Jahrhunderts - kann man Mülhausen fast wörtlich als das bedeutendste Museum der Industriezivilisation in Europa bezeichnen.

 

Warum Mülhauser Museen einzigartig in Europa sind

 

Der Aufbau von einmaligen Sammlungen wertvoller Zeugen der industriellen Entwicklung hat in Mülhausen seinesesgleichen in Europa suchende Tradition. So bewahrt das Stoffdruckmuseum mit mehr als zwei Millionen Mustern die Erinnerung an die 250jährige Geschichte der Textil- und Modeveredelung und ist gleichzeitig eine Quelle der Inspiration für Designer aus der ganzen Welt. Das Eisenbahnmuseum erinnert daran, dass Mülhausen die Wiege des Eisenbahnbaus auf dem Kontinent ist - und bleiben wird: Denn der französische Hochgeschwindigkeitszug "TGV" wird durch einen Tochterbetrieb der Mülhauser Maschinenindustrie in Belfort gebaut. Es war darum kein Zufall, dass die französische Staatsbahn SNCF 1965 den Grossteil ihrer historischen Fahrzeugsammlung in Mülhausen unterbringen und ausstellen liess. Das Keramikmuseum ist just in den restaurierten Industriehallen der Fabrikziegelei Lesage untergebracht und erinnert dadurch an den enormen Baumaterialbedarf der Gründerzeit sowie der daraus hervorgegangenen Erfindung des noch heute üblichen Falzziegels.

 

«Schlumpf-Affäre» ist Teil der textilen Geschichte

 

Auf dem Höhepunkt ihres Wohlstandes ruinierte das Schweizer Industriellen- Brüderpaar Fritz und Hans Schlumpf ihr mehrheitlich in Mülhausen und seiner Region angesiedeltes französisches Textilimperium durch den Aufbau einer privaten Automobilsammlung von fast 500 Fahrzeugen. Vom Umfang und Reichtum dieser perfekt restaurierten "Sammlung Schlumpf" erfuhr die Öffentlichkeit erst nach einem der skandalösesten sozialen Konflikte der zeitgenössischen Geschichte. Die Sammlung ist der pervertierte Auswuchs der Tradition der Sammeltätigkeit der Textilbarone der Gründerzeit.

Die ausgedehnten Handelsreisen in den französischen Kolonien der missionarisch motivierten Mitglieder der Gründerfamilien liess den wunderschönen Zoo-Park auf Mülhausens Nobelberg, dem früheren, Rebberg entstehen. Er sollte den Beschäftigten der Industriellen nicht nur Ruhe und Anschauung, sondern auch Belehrung bescheren.

Wenngleich wenige Werke im Kunstmuseum einen Umweg lohnen, so ist doch die Lückenlosigkeit der zeitgenössischen Kunst und des dadurch sichtbar werdenden Kunstverständnisses einer einzigen Epoche allemal eine Reise wert.

 

500 000 Tapetenmuster aus drei Jahrhunderten

 

Logisch ist auch die Anwesenheit des Elektrizitätsmuseums «Electropolis», das die Entwicklung der Energienutzung ebenso vollständig darzustellen vermag, wie auch das Feuerwehrmuseum, dessen Vielfalt der Brandbekämpfungsmittel aufzeigt, wie der anfänglich bedenkenlose Umgang mit der Technik schliesslich zu einem bewussteren Sicherheitsdenken führen musste. Rund 120 Hochkamine zählte Mülhausen auf dem Höhepunkt seiner industriellen Revolution zu Beginn des Ersten Weltkrieges.

Das Tapetenmuseum von Rixheim umfasst eine lückenlose Sammlung von über 500'000 Mustern, und zwar seit Beginn der Gründung der Manufaktur Jean Zuber & Cie. im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Jede dieser teils spektakulären Sammlungen erzählt die Geschichte eines grossen Zweigs der Industrie. Zusammen mit den anderen Sammelwerken Mülhausens illustrieren diese Museen die spannende Entwicklung eines leistungsfähigen Industriebeckens, dessen Innovations-Fortschritt auf einer traditionsreichen Vergangenheit gründet. Dem aufmerksamen Gegenwartsmenschen dürfte am Beispiel der Mülhauser Textilgeschichte klar werden, wie Entwicklung entsteht, wie die Ballung von Kräften sie erst ermöglicht.

 

Von Jürg-Peter Lienhard

 

Lesen Sie die dazugehörige Box unter:

Box ad Industriegeschichte: Was aus einem Faden so alles werden kann

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