Artikel vom: Mai 1992
Rezension
Merian: Elsass
Clichés nur zum «Anfüttern»
Eine Karikatur, statt einer Postkartenlandschaft:
Premiere bei den Merian-Heften - Das Ecomusée d'Alsace wird verschwiegen,
«eine katastrophale Auslassung», meint Mit-Autor Tomi Ungerer
Von Jürg-Peter Lienhard
Eine elsässische «Nana»
mit ihren charakteristischen «Elefantenohren» hat zwei «Bubbela»,
auf der Schoss: ein deutsches Seppelchen und ein französischer Jeannot.
Dem einen gibt sie den Schoppen in Form einer guten Flasche Elsässer,
und dem anderen füttert sie unzweifelhaft Strassburger Würstchen.
Zum ersten Mal hat der Merian-Verlag, Herausgeberin der «Monatshefte
der Städte und Landschaften», für das jüngste Heft,
das dem Elsass gewidmet ist, kein Foto, sondern eine Karikatur verwendet.
Urheber dieser vielsagenden Karikatur ist kein Geringerer
als Tomi Ungerer, elsässischer Unterländer, frecher und liebevoller
Verteidiger des Elsass in Wort und Bild, vor allem aber mit seinem spitzen
Zeichenstift. Seine Karikatur als Titelbild ist bei einem spezialisierten
Periodikum «für Städte und Landschaften» eine verlegerische
Innovation. Eine gewitzte Idee, zumal die meisten solcher Publikationen
über das Elsass gewöhnlich nicht ohne schmuckes Fachwerkhaus oder
ohne Strassburger Münster auskommen. Dabei ist hintersinniger Witz
eben auch eine der sprichwörtlichen Charaktereigenschaften der Elsässer,
geschärft im Hin und Her des deutsch-französischen Dilemmas.
Elsass - kein zweiter Landstrich in Europa dürfte derart viele Cliché-Assoziationen
wachrufen. Und wer «Elsass» sagt, will auch «Elsass»-Clichés
zum Futter - deftiges Essen und guter Wein, Geranien an den Fenstern, heimelige
Sprache und Bilderbuch-Heimat. Ein Kreuz für einen Verleger, der sich
am Kiosk behaupten muss, der Neues bringen, aber doch mit dem Cliché
als Blickfang werben muss.
Wiedererkennung statt Clichés
Darum heisst bei Merian «Cliché» nicht «Klischee»,
sondern «Wiedererkennung». Der Leser, respektive der Käufer
des Heftes, soll das Thema an etwas «Typischem» wiedererkennen,
meint der stellvertretende Chefredaktor Manfred Bissinger. Und in zweiter
Linie soll er Neues, Unbekanntes erfahren oder eine andere Sicht der gewohnten
Sehweise erhalten.
Jedenfalls ist es dem Merian-Verlag gelungen, ein Elsass-Heft herauszugeben,
das als «Cliché-Köder» eben ein Cliché karikiert,
überhöht und damit Abstand zum Cliché schafft. Das Ungerer-Titelbild
führt denn auch den Leser nicht zur malerischen Fressbeiz oder zum
Denkmal von unbestrittener Weltgeltung, sondern zu einer literarischen Cliché-Zertrümmerung
von Martin Graff, die wiederum von Tomi Ungerer saufrech illustriert ist
und zudem durch eine witzige Fenstertechnik auch typographisch aus dem Rahmen
fällt.
Das «Obligatorische» ist eher marginal vermerkt. Natürlich
fehlt das Strassburger Münster oder der Issenheimer Altar nicht. Ein
GugeIhopf, «Süürkrütt», Federvieh und Fressbeiz
sind auch dabei. Doch ist die grossflächig aufgemachte Bildreportage
aus dem Hundsbachtal ein mutig gelungener Blick hinter das Elsass-Cliché.
Allwetter- und Ganzjahresregion
Etliche Fotos bringen ebenfalls eine neue Optik, fahren ab mit dem Cliché
von Land und Leuten, und gleichwohl ist das Elsass sicht- und spürbar.
Dabei sei das Fotografen-Team im vergangenen Frühjahr vom «Wetterpech»
verfolgt gewesen, entschuldigt sich Redaktor Bissinger völlig unnötierweise.
Denn das EIsass ist eine Allwetter- und Ganzjahresregion, wie es sie nicht
mehr so schnell gibt in unseren Breitengraden. Während vielleicht
das Ruhrgebiet bei Regen noch unausstehlicher scheinen mag, antwortet die
charakteristische elsässische Landschaft etwa bei Winter-Nebel oder
Nieselregen mit melancholischer Poesie oder im Herbst mit einem Flammenmeer
in den Rebbergen. Die zauberhafte Ambiente eines trüben Frühlingstages
mit der Kamera einzufangen, dafür braucht es allerdings das geübte
Auge eines Fotokünstlers vom Schlage eines Ludwig Bernauers, der als
der Fotopoet des Elsass leider übergangen wurde.
Ein umfassendes Heft über ein so vielschichtes Land mit diesem in
Beton gegossenen Cliché-Image gestalten zu wollen, setzt ein redaktionelles
Konzept voraus, das seine Informationen weit unter der Cliché-Oberfläche
beziehen muss. Wo die Redaktion selber Pfähle eingeschlagen hat, ist
es im Heft auch sofort spürbar abzulesen: Allein der unüberschaubar
gewordene Stoff zum Thema Sprachdilemma würde selbst in einem Sonderheft
den Platzrahmen sprengen. Ganz abgesehen davon, dass ein Deutscher Verlag
sowieso Partei wäre. Die Glosse von André Weckmann «Ditsch-franzeesche
Migges» befriedigt indes Sachkenner ebenso, wie auch unbedarfte Leser
damit ein süffig zu lesender Essay über ein tiefgreifendes Problem
vorgesetzt bekommen.
Offenbar unvermeidlich: Deutscher Gastro-Schwafler
Was jedoch nicht von der Redaktion gestaltet worden ist, also vor allem
die Beiträge von beauftragten Journalisten, zeugt von wenig Sachkenntnis:
«Der Schatz der Schlümpfe», eine Schilderung der Autosammler
Schlumpf, ist Wiedergekäutes von unzählbar Abgeschriebenem. Hier
wurde die Gelegenheit verpasst, statt der ziemlich angeschimmelten Geschichte
zweier Autonarren, das Umfeld der Textilbarone zu schildern. Nämlich
die unglaublich spannende industrielle Geschichte Mülhausens, zu der
die Schlumpfs als exzentrische Exponenten der elsässischen Industriegründer
einen wesentlichen Abschnitt mitgeschrieben haben. Die Industriegeschichte
Mülhausens geht ja weit über das Elsass hinaus, ist multinationale
Wirtschaftsgeschichte.
Schade auch, dass der kulinarische Vielschreiber Wolfram Siebeck auch
hier seine eloquenten Cliché-Blasen ablassen darf - was bei deutschen
Lesern offenbar immer noch zieht, bei Kennern aber als Geschwafel mächtig
am Nerv zerrt - der Basler Publizist Hanns U. Christen (alias «-sten»)
hätte jedenfalls nicht nur mehr Schweizer Leser angesprochen, sondern
hätte den deutschen Käufern das Wesentliche eines guten elsässischen
Weines beibringen können.
Sträfliche Unterlassung
Während weitere Beiträge ebenfalls floskeln und clichieren,
fehlt ein anderer Aspekt gänzlich: Das erst siebenjährige elsässische
Freilichtmuseum Ecomusée d'Alsace von Ungersheim - mit jährlich
350'000 zahlenden Besuchern der grösste touristische Publikumsmagnet
im Elsass - ist nicht einmal im Adressverzeichnis der Museen aufgeführt.
«Ein Fehler», bekennt Verlagssprecher Bissinger, der freilich
vom Ecomuseé d'Alsace noch nie etwas gehört hat. Für diese
verlegerische Unbedarftheit hat Tomi Ungerer kein Verständnis: «Eine
katastrophale Auslassung!» Doch Bissinger freimütig: «Ein
Merian-Heft ist eben nur so gut, wie seine Autoren.»
Zusammenfassend kann man indes sagen, dass das «Merian-Elsass»
besticht durch seinen Mut, Schwerpunkte weg von Clichés zu setzen,
«obligatorische» Clichés allein zur «Wiedererkennung»
zu verwenden und an einigen Stellen gar unkonformen Stimmen Gehör zu
verschaffen.
|