Literatur
Aktion «Basel liest ein Buch»
beendet
Der Pinguin, der die (Basler) Herzen eroberte
Andrej Kurkows Roman «Picknick auf
dem Eis» ist bei den Baslern gut angekommen - Ein Blick in das stimmungsvolle
Buch
Von Jürg-Peter Lienhard
Was ist das für ein Kriminalroman,
wo es weder «richtige» Tote noch einen Detektiv gibt? In Andrej
Kurkows Krimi «Picknick auf dem Eis», der teils im winterlichen
Kiew handelt, gibt es zwar massenhaft Tote, aber nur, wenn der
Held der Geschichte die Zeitung liest: nämlich allein in der Zeitung
unter der Rubrik «Todesfälle». Sonst aber hat der Protagonist
dieses Romans keines seiner «Opfer» je gesehen noch gekannt:
Er musste ihren Nekrolog schreiben, bevor sie ermordet oder verunfallt
«wurden».
Viktor, der Protagonist, ist ein Schriftsteller, der zwischen
journalistischen Versuchen und Prosarbeiten steckengeblieben ist. Ihm
zur Seite steht ein Pinguin, den er aus dem Zoo «gerettet»
hat, weil der Zoo pleite war und Tiere an Leute verschenken musste, die
für das Futter aufkommen konnten. Viktor bestreitet sein Auskommen
mit dem Verfassen von Nekrologen, die er gewissermassen auf Vorrat für
einen geheimnisvollen Chefredaktor schreiben muss: Jeder Auftrag ist ein
Todesurteil.
Der Pinguin namens Mischa ist zwar nur eine Nebenfigur, aber stets
präsent: Wenn sein Meister traurig ist, watschelt er heran und legt
ihm den Kopf samt Schnabel aufs Knie. Am wohlsten fühlt sich Mischa
in den Eislöchern des Dnjepr, wohinein sich der Pinguin kopfüber
stürzen kann, ohne einen einzige Spritzer zu verursachen. Wenn Mischa
dann im Loch eines anderen Fischers wieder auftaucht, kann es vorkommen,
dass dieser alte Saufaus «weisse Mäuse» zu sehen wähnt
und künftig dem Wodka abschwören will.
Lesen «wie auf Wolken»
Andrej Kurkow gelang das Kunststück, einen Kriminalroman zu schreiben,
bei dem die Fakten im Hintergrund bleiben, kein «Fall» gelöst
oder angegangen wird, sondern nur als Staffage für die Stimmungslage,
für die Lebensfatalität und die Träume des Protagonisten
dient. Diese dichte Atmosphäre, die einen als Leser wie auf Wolken
in einer Stimmung schweben lässt, die keiner Handlung bedarf, erinnert
an «unseren» Hansjörg Schneider: Es sind die «kleinen»,
«nebensächlichen» Dinge, mit denen Andrej Kurkow spielt
und ein wohliges Lesegefühl (vor grausigem Hintergrund) bereiten.
Der grausige Hintergrund ist die Kiewer Unterwelt, wie sie sich nach
dem Zerfall der Sowjetunion schamlos offen zeigt, mit seinen Systemgewinnlern
und der allgegenwärtigen Mafia. So sind denn Kurkows «unschuldige»
Figuren Produkte dieses gesellschaftlichen Verfalls: der Pinguinologe, der
vom Zoo entlassen werden musste, die kleine Sonja, verlassenes Waisenkind
eines mafiösen Vaters, der aufrechte Polizist Sergej, der nach Moskau
«wegbefördert» wird, aber die alle mit dem «System»
irgendwie leben müssen.
Basler sind literarische Connaisseure
Es spricht für «die» Basler schlechthin, von denen
über 2‘000 per Stimmzettel oder per E-Mail vor einigen Monaten den
Roman von Andrej Kurkow als die sommerliche «Gemeinschaftslektüre»
der Stadt gewählt haben. Aber auch für die 20köpfige buntgemischte
Jury, die nach längeren Debatten drei Bücher zur Auswahl für
die Aktion «Basel liest ein Buch» bestimmte.
Die Aktion - die Leser des Webjournals wissen es; ich berichtete im
August darüber - wurde initiiert vom Projektleiter Martin Machura in
Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Basel und mit 150‘000 Franken finanziert
von der Christoph-Merian-Stiftung. In diesem Rahmen wurde ein Tram mit dem
Buch Kurkows ausstaffiert, wurden Lesungen im Zolli - vor Pinguinen natürlich
-, auf öffentlichen Plätzen und im Cafépavillon des Schützenmattparkes
abgehalten, garniert mit der Präsentation von russischen Kurzfilmen
oder der Marathonlesung in der Klubschule Migros in 30 Sprachen. Höhepunkt
aber war die Abschluss-Lesung des Autors Andrej Kurkow im Café-Pavillon
der Schützenmatte Ende September 2003.
Jürg-Peter Lienhard
Lit.: Andrej Kurkow: «Picknick auf dem Eis»,
Roman. Diogenes, Zürich 2003. Fr. 14.90.
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