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Sauregurkenzeit

Wie jeden Sommer watscheln «Enten» durch die Medien

Vom Nierenklau und anderen Wandersagen

Nieren werden geklaut, Flöhe überfallen Ortschaften, Fallschirmspringer lassen Kürbisse vom Himmel fallen. In der Sommerzeit sind die Menschen anfällig für erfundene und erlogene Geschichten. Da heisst es: Obacht Sauregurkenzeit!

Von Jürg-Peter Lienhard

Claudia Vogt, Pressesprecherin des Kriminalkommissariates Basel-Stadt, versteht es zweifellos, ein Grinsen am Telefon echt hörbar zu machen. Jedenfalls klemmt sie die Frage des Journalisten - diese Frage - noch mitten im Satz mit der Gegenfrage ab: „Sauregurkenzeit, was?“ Schon wieder hört sie eine andere Version der Wandersage von der geklauten Niere und wundert sich, dass Journalisten jeden Sommer stets Opfer ihres eigenen Spürsinns in der schrecklich ereignislosen Ferienzeit werden.

Dabei hat diese blutige Sauregurkenzeit-Geschichte schon ein paar stattliche Jährchen auf dem Buckel und ist mindestens ebenfalls ein paar Mal um den Erdball gereist - in allen Sprachen der Kontinente. Die Sage handelt von einer Person, die plötzlich vermisst wird, aber Tage darauf wieder „totenbleich“ auftaucht - „Diebes-Chirurgen“ haben ihr eine „Niere operativ entfernt“, dh. ein Organ bei lebendigem Leib geklaut. Austauschbar an dieser Lügengeschichte ist das Geschlecht der geschilderten Person, das Alter, die Nationalität und der „Tatort“.

Vor allem der „Tatort“ wird von den flüsternden Kolporteuren mit raffinierter Genauigkeit oder juristisch präziser, mit qualifizierter Absicht der Kreditschädigung, ausgesucht: Vor zwei Jahren war es ein Gross-Einkaufszentrum vor Zürichs Toren, wo sogar das Fernsehen die „Blutspuren“ des jugendlichen Opfers „recherchieren“ wollte. Angeblich war das „frischoperierte Kleinkind“ nach vollbrachtem Nierenklau vom „Täter im weissen Kittel“ sinnigerweise auf einem Matratzenstapel der Möbelabteilung deponiert worden. Die Leitung des Einkaufscenters hatte jedenfalls ob dieser Lügenpublicity alle Mühe, in Panik versetzten Müttern unter ihren Kunden den „mangelnden Wahrheitsgehalt“ der Schauermär „glaubhaft“ zu machen.


Die Crux ist das vermutete Körnchen Wahrheit

 

Denn das ist die Crux bei den Wandersagen, die menschliches Verhalten so typisch schildern, dass sie in einem höheren Sinn Anspruch auf Wahrhaftigkeit haben und ihr Abstreiten buchstäblich „folgerichtig“ eine Bestätigung dessen ist: Ist denn da nicht gleichwohl ein Körnchen Wahrheit dabei?
Dies erlebte vor ebenfalls noch nicht allzulanger Zeit ein untadeliger und angesehener Metzgermeister in einem elsässischen Nachbarort Basels, mit vorwiegend Schweizer Kundschaft. Gut 200‘000 französische Franken kostete ihn eine Serie ganzseitiger Anzeigen zur Auffindung der Täterschaft: Die Lügengeschichte über Frau und Hund war so degoutant, dass sie von den Medien zunächst nicht aufgegriffen wurde - doch in der Millionenagglomeration des Dreiländerecks kannte sie gleichwohl blitzartig jeder! Erst als der verzweifelte Gewerbler, wegen dramatischem Umsatzrückgang in seinen zahlreichen Filialen, sich per Inserat an die Öffentlichkeit wenden musste, bestätigten die Medienrecherchen das Gerücht als infame Verleumdung. Dabei hatte der Unternehmer noch Glück: Örtliche Politiker, die sich zuvor zur süffisanten „on dit“-Mittäterschaft verleiten liessen, bestellten flugs die Pressefotografen, als sie demonstrativ wiedergutmachend“ zum Einkauf beim solchermassen rufgeschädigten Metzgermeister schritten.

 

Mafia ist «kaum» interessiert

 

Kaum jedoch steckt die „Mafia“ hinter diesen Lügengeschichten, Wanderlegenden und sauren Gurken, wiewohl diese Annahme in den beiden Fällen naheliegend scheint. Vielmehr entsprechen solche Schreckensmythen dem Bedürfnis nach Sagen und Mysterien, das beim modernen Menschen auch im Zeitalter des Fernsehens stets ungestillt bleibt, respektive geradezu noch gefördert wird, wie Rolf Wilhelm Brednich, Professor für Volkskunde an der Universität Göttingen, in seinen Veröffentlichungen zum Phänomen der Wanderlegenden nachweist. Bereits hat er drei Bücher mit solch höchst erstaunlichen „Begebenheiten“ füllen können, und noch geht ihm der Stoff nicht aus.1) Denn das ist ein gemeinsames Merkmal aller modernen Sagen: Ein begabter Erzähler kann sie jederzeit ausschmücken, dem jeweiligen „Kulturhorizont“ anpassen, und „auf Reise schicken“: Von Mund zu Mund, von Beiz zu Beiz, in die Ohren von Journalisten und damit in die Medien...

Einzig die eher harmlose Geschichte von der Floh-Invasion im jurassischen Dorf Bonfol verbreitete sich geografisch sehr bescheiden, nämlich nur über die Landesgrenze ins benachbarte französische Städtlein Beaufol: Wegen Ferienabwesenheit der Einwohner sollen die zurückgelassenen Hunde und Katzen die Flöhe in alle Haushaltungen verschleppt haben, wo sie sich während den Sommerwochen rasant und ungehindert vermehrten. Weil die örtliche Drogerie aber infolge unerhörter Nachfrage den Nachschub an Flohpulver nur mit Mühe bewältigen konnte, hätten zahlreiche Familien nach ihrer Rückkehr tagelang unter freiem Himmel nächtigen müssen: Als nämlich der Vorfall ruchbar geworden sei, hätte die ganze Region den „Flohflüchtlingen“ kein Obdach bieten wollen...

 

Wandersage sind stets nach dem gleichen Muster gestrickt

 

Für Professor Brednich bestätigt auch diese Geschichte, dass die Sagen stets nach dem gleichen Schema gedichtet werden. Erstens wird das Geschehnis als unbedingt wahr geschildert. Zweitens werden konkrete Orte, Zeitpunkte und häufig auch Personen genannt, denen das fragliche Unglück widerfahren sein soll. Und drittens verbirgt sich immer eine Moral dahinter: Misstraue der modernen Technik! Geh‘ nicht fremd! Verlass dich nicht auf andere! Bleib‘ am besten zu Hause!

Offenbar ist hier ein Repertoire zusammengekommen, das zum kollektiven Erfahrungsschatz des Volkes zählt. Nicht immer, so hat Brednich herausgefunden, sind alle Horrorgeschichten gleichzeitig im Umlauf. Vielmehr kursieren sie in einer Art Wellenbewegung, die zweifellos in der Sauregurkenzeit am wenigsten Widerstand zu fürchten hat.

Was Wunder, dass sich die Legendenforscher unter den Volkskundlern jeweils im Sauregurken-Monat Juli zu ihrem Erfahrungsaustausch in Sheffield treffen? Und dabei selbst für die Verbreitung der wissenschaftlich als Lügenstories erkannten Geschichten sorgen - indem sie nicht nur ein Mitteilungsblatt herausgeben, sondern gar ein Jahrbuch mit den gesammelten Schauermären...

 

Wanderlegen «wandern» nicht

 

Keine Schauermär ist hingegen, dass „Wanderlegenden“ heutzutage kaum mehr „wandern“, sondern quasi in Echtzeit um den Erdball rasen. Nämlich auf der Daten-Autobahn per Internet, Fax, und x-fach verbreitet via Fotokopierer... Dies belegte ein wissenschaftlicher Test, bei dem US-Kollegen von Brednich ein Schauerstück von Boston aus „auf den Weg“ schickten, und zu seinem Erstaunen nur gerade drei Tage brauchte, um in der Ostfriesischen Zeitung - selbstverständlich auf Deutsch übersetzt - abgedruckt zu werden...

Ohne ein Volk, einen Kontinent, von der Anfälligkeit für Lügengeschichten ausnehmen zu wollen, haben die Amerikaner hierin doch einen Vorsprung, indem sie mit ihren „fax tales“, die jetzt die „xerox tales“ ablösen, eine eigentliche Kultur entwickelten. Die hat allerdings Tradition, was sich beispielsweise in der Beliebtheit von „Readers Digest‘s“ und solchen Rubriken wie „Menschen wie Du und ich“ manifestiert. Eine spezielle Form der Lügenlegenden ist wiederum in den USA geboren worden, wo in der einsamen „virtuellen Realität“ vor dem Bildschirm Ersatz für nicht gelebte Erlebnisse gedichtet wird - „Computer- Viren“, die auf der Häme gründen, ganze Kontinente zu ärgern, sind nur ein
Beispiel dafür.

 

Nicht nur einfache Gemüter gefährdet

 

Anzunehmen, dass nur einfache Gemüter den Lügenlegenden auf den Leim kriechen ist ebenso falsch, wie zu meinen, der mangelnde Wahrheitsgehalt könne bei kritischem Hinterfragen entlarvt werden. Das musste jüngst Bruno Haldner, Direktor des Basler Museums für Gestaltung, erfahren. Zwar gilt er mit seinen eigenwillig gestalteten Ausstellungen in der Fachwelt zu Recht als Entwickler einer neuen Ausstellungssprache. Doch in der denkwürdigen Sonderschau „risiko“ setzte auch er sich in das Fettnäpfchen einer USLügenlegende, mit der er ausgerechnet den Begriff „Risiko“ illustrieren wollte: Ein Fallschirmspringer wurde in Hinkley/Illinois festgenommen, weil er einen Kürbis (!) aus 600 Meter Höhe zur Erde fallen liess. Der Kürbis durchschlug ein zweistöckiges Gebäude vom Dach bis zum ersten Stock, bevor er in der Küche landete, in der die Hausfrau gerade den Nachtisch zubereitete: Obstsalat....

Aber auf Brednichs Hitliste steht die Fama vom Nierenklau immer noch an der obersten Stelle, obwohl er inzwischen nicht nur das Entstehungsjahr 1990, sondern auch gewissermassen die „Adresse“ herausgefunden hat: eine Hochzeitsfeier in Niedersachen. Die Geschichte wechselte seither unzählige Male ihren Tatort. Nicht nur in der Region Zürich, sondern in der Türkei, in Rumänien, Bulgarien oder Südamerika ist man spitz auf Wandernieren, pardon Nierenklau. Offenbar ist man im Hochsommer sowieso auf keinem Ort der Welt vor den Organdieben sicher, denn Brednich ortete sie - dh. die Lügengeschichte - in Strassburg, in Freiburg und eben auch jetzt in Basel...

 

Herzlich, Ihr Jürg-Peter Lienhard in...Basel

 

1) zuletzt erschienen: Band III, „Das Huhn mit dem Gipsbein“, C.H. Beck Verlag, München, 1994

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