Unter dem Nachlass befinden praktisch alle Manuskripte, die Schweitzer
in Lambarene verfasste. Mit Ausnahme von ein paar Schriften, die von
Antilopen angefressen wurden, sind die meisten zumindest in
entzifferbarer Qualität erhalten geblieben und ausgewertet worden.
Schweitzer war zeitlebens mit Zürich verbunden
Normale Arbeits-Manuskripte haben fast immer Randnotizen. Der Grosse
Teil davon sind Vorbemerkungen, Vorfassungen, die der nachträglichen
definitiven Fassung vorausgingen. Die interessantesten Bemerkungen zur
Literatur unserer Zeit sind aber in Büchern, die Schweitzer gelesen hat.
Sie befinden sich in der Bibliothek von Günsbach, während die
Manuskripte nach dem Willen von Schweitzers Tochter Rhena (heute in den
USA wohnhaft) von der Zentralbibliothek Zürich in Obhut genommen wurde.
Dies, weil Schweitzer zeitlebens enge Beziehungen in der Schweiz hatte.
Von vielen Werken gibt es verschiedene Fassungen, wofür Zürcher zwei
Gründe nennt: Häufig habe Schweitzer Notizen in Europa gemacht; in
Lambarene sei er dann weitergefahren, hatte aber das andere betreffende
Manuskript oder die Unterlagen nicht dabei. Dann fingt er einfach wieder
von vorne an und verfasste neu.
Sein Lebensproblem löste er nie
Der zweite Grund ist, dass er ein Problem zu lösen versuchte, das ihm
nie richtig gelang. So hat er dann stets wieder von vorne angefangen,
wie Pfarrer Zürcher feststellen konnte: «Er suchte eine Ethik für die
Natur, überhaupt eine Ethik, die alles Leben, Menschen, Tiere, Pflanzen
und alle Bedingungen, die dieses Leben ermöglichen, berücksichtigt. Das
ist es, was Schweitzer fordert. Indes: Aus der Natur kann man zwar
Naturgemässheit lernen, aber nicht Ethik ableiten, denn die Natur ist
jenseits von Gut und Böse. Ethik ist eine Angelegenheit des Menschen,
der seiner Vernunft- und Denkfähigkeit wegen für sein Tun verantwortlich
ist: er kann gut oder böse handeln, kann die Natur (als Lebensgrundlage)
und Leben bewahren oder zerstören. In der Natur aber geschieht alles
gemäss ihrer Gesetzlichkeit.»
Dieser Grundgedanke ist schon in seinen bereits publizierten Büchern
nachzulesen. Er beruht auf der Feststellung der unerhörten Diskrepanz,
dass in den letzten 200 Jahren das Wissen in der Technik unendlich
zugenommen hat - bis zur Atombombe -, und dass nun eigentlich im selben
Ausmass auch die Verantwortlichkeit entsprechend wachsen müsste. Der
Mensch müsste also in seiner Vernunft, in der Anwendung seiner
Erkenntnisse ebenfalls fast übermenschlich handeln. Das ist bekanntlich
nicht der Fall...
«Zwingende» Ehtik war sein Ziel
Diese Diskrepanz beschäftigte ihn. Er suchte deswegen in die ganze
Diskussion der heutigen Menschheit Ethik hineinzubringen. Pfarrer
Zürcher: «Schweitzer war sich bewusst, die Notwendigkeit einer Ethik
darzustellen ist nicht schwer, das begreift jeder, dass eine Ethik nötig
ist. Hingegen wusste er, dass es unendlich schwer ist, eine Ethik
wirklich so zu begründen, dass sie z w i n g t. Daran arbeitete er
intensiv, wie aus seinen Nachlass-Schriften jetzt hervorgeht. Aber es
gelang ihm nicht. Gleichwohl ist dies Bemühen heute sehr aktuell»,
bestätigt der Wissenschafter, «übrigens auch seine Bemühungen um die
Entwicklungshilfe: Schweitzer hat ja sein ganzes Werk verstanden als
Sühne gegenüber allen Drittweltländern.»
Schweitzer predigte als erster Europäer bereits 1912 in Strassburg:
«Seit Jahrhunderten hat Europa, und auch Amerika, Raubbau betrieben an
den Völker, an den Ländern, an den Ressourcen.» Und dies noch lange
zuvor, als man in Basel noch Negervölker zur Belustigung im Zolli
ausstellen liess... «Diese Schuld, die sich der Westen diesen Ländern
gegenüber aufgeladen hat, seit Jahrhunderten, müsste man sühnen,
korrigieren. Das war sein Bemühen», weiss sein Bibliograph. «Schweitzer
wusste, dass er das nicht allein machen konnte, aber er konnte ein
Zeichen setzen: Er hat es - in aller Bescheidenheit - so verstanden!»
Als «Urwalddoktor» zu Recht vergessen - als Philosoph noch immer aktuell
Dass bis zum Jahr 2000 pro Jahr mindestens einer der insgesamt zehn
bereits redigierten Nachlassbände herauskommen soll, würde auf den
ersten Blick vermuten lassen, dass eine Neubelebung der Legende des
«Urwalddoktors» veranstaltet werden soll. Doch Pfarrer Zürcher belegt
mit zahlreichen Vortrags- und Dissertations-Schriften jüngsten Datums,
dass im Bewusstsein der Öffentlichkeit vielleicht der schnauzbärtige
«Urwalddoktor», das Cliché, die «Legende» in Vergessenheit geraten ist -
zurecht - aber dass das Interesse bei Philosophen, Theologen und
Ökologen ganz im Gegenteil nicht zum Erlahmen gekommen ist.
Die Faszination, die von Albert Schweitzers Universalität ausgeht,
scheut Pfarrer Zürcher denn auch nicht, mit jener Goethens zu
vergleichen. Gleichwohl aber hat Schweitzer - bei aller Universalität -
seine Arbeit sehr geschickt auf ein Zentrum konzentriert. Darin sieht
Zürcher die Bedeutung des Universalisten, der in der heutigen
Wissenschaft so nicht mehr möglich wäre.
Cousin Jean-Paul Sartres
Seine Universalität gründet aber auch auf der Tatsache, dass er als
Elsässer - als Cousin Jean-Paul Sartres notabene und Verwandter der
«Kronenbourg»-Familie Hatt - im Zentrum des Dreiecks der französischen,
schweizerischen und deutschen Kultur geboren wurde: er lebte die
französische und die deutsche Geisteskultur gleichzeitig, hat aber sein
menschliches Mitgefühl in seiner elsässischen Heimat in Kaysersberg,
Colmar und Strassburg gewonnen.
Es scheint an der Zeit, auch in der Öffentlichkeit die «Barrikade» des
abgenutzten «Urwalddoktor»-Clichés abzubrechen, weil damit der ethisch
motivierte Philosoph, Philanthrop und vor allem auch Ökosoph,
gesellschaftlich «entschärft» und damit beinahe mundtot gemacht worden ist.
Jürg-Peter Lienhard
Lesen Sie dazu auch:
Interview mit seinem Biographen Johann Zürcher
Interview mit dem Philosophen Stefan Brotbeck
Lexikographie
Die Werke aus dem Nachlass Albert Schweitzers werden vom Verlag C.H.
Beck, München, verlegt.
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