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16.03.1995 - Philosophie

Albert Schweitzers Nachlass wird publiziert

Auf der Suche nach einer «Ethik für alles Lebende»

Der «Urwalddoktor» gerät zu Recht in Vergessenheit; der Philosoph und sein Werk sind jedoch immer noch hochaktuell.

Albert Schweitzer erhielt 1952 den Friedensnobelpreis, wie Bertrand Russell, weil er sich trotz des Kalten Krieges gegen die Atombombe einsetzte.

Vor 30 Jahren starb der erste elsässische Friedensnobelpreisträger, Theologe, Musiker, Philosoph und Arzt, «Urwalddoktor» Albert Schweitzer, in Lambarene (Gabon). Und fast gleich lang dauerte die Arbeit, welche es jetzt ermöglicht, seine unveröffentlichten Schriften zu publizieren. Philosophen und Theologen sind sich einig: Der universale Philanthrop hat der Menschheit immer noch etwas zu sagen; ja seine vor 70 Jahren begründete «Öko-Ethik» ist aktueller denn je.

Von Jürg-Peter Lienhard

 

Soeben ist der erste wissenschaftlich edierte Band aus dem enorm umfangreichen schriftlichen Nachlass von Albert Schweitzer herausgekommen: Albert Schweitzer, Werke aus dem Nachlass, herausgegeben von Ulrich Luz, Ulrich Neuenschwander, Johann Zürcher, Verlag C.H. Beck, München, Band I, Reich Gottes und Christentum. Bis zur Jahrtausendwende dürften es etwa zehn Bände werden - gegen 5500 Druckseiten.

Zwei Kommissionen hat es dafür gebraucht, und eines dieser Kommissionsmitglieder, das über 22 Jahre seines Lebens Manuskripte des Friedens-Nobelpreisträgers von 1952 gesichtet und für die Publizierung vorbereitet hat, ist der pensionierte Pfarrer Johann Zürcher in Worb.

 

10'000 Papierseiten Manuskripte

 

Schweitzers Nachlass-Schriftstücke befanden sich in einem von Albert Schweitzer selber in Günsbach (Kaysersberg, Oberelsass) gemauerten Tresor von je zwei Meter Tiefe, Breite und Höhe. «Eine riesige Fülle, die mir buchstäblich entgegenquoll», erinnert sich der Schweitzer-Bibliograph Zürcher. Die nach bald 25 Jahren intensiver bibliographischer Auswertung zum Druck aufbereiteten Dokumente füllen heute 29 Säcke und 24 Dossiers - das sind 8000 bis 10000 Papierseiten. Oder präziser: Albert Schweitzer nutzte, wenn ihm sein bevorzugtes Folioformat für seine Manuskripte im Urwald ausging, aus Sparsamkeit unglaubliche Sorten von Altpapier-Fetzen: Kalenderblätter, die Umschläge des «Nebelspalters» und anderer Zeitschriften, die er erhielt, ja auch die Rückseiten von Vermählungs-, Geburts- und gar Todesanzeigen.

 

Wann immer ihn ein Gedanke, ein Einfall beschäftige, brachte er ihn zu Papier. Im Urwald , wo nicht gleich um die Ecke eine Papeterie zuhause war, hat er allerlei Papiere «wiederverwertet»: Kalenderblätter, sogar die Briefumschläge des Schweizer Satiremagazins «Der Nebelspalter», den er sich selbst nach Lambarene weiterleiten liess, Rückseiten von Geburts- und Todesanzeigen usw. - eine detektivische Arbeit für seinen Biographen.
Foto J.-P., Lienhard, Basel © 2003

 

Unter dem Nachlass befinden praktisch alle Manuskripte, die Schweitzer in Lambarene verfasste. Mit Ausnahme von ein paar Schriften, die von Antilopen angefressen wurden, sind die meisten zumindest in entzifferbarer Qualität erhalten geblieben und ausgewertet worden.

 

Schweitzer war zeitlebens mit Zürich verbunden

 

Normale Arbeits-Manuskripte haben fast immer Randnotizen. Der Grosse Teil davon sind Vorbemerkungen, Vorfassungen, die der nachträglichen definitiven Fassung vorausgingen. Die interessantesten Bemerkungen zur Literatur unserer Zeit sind aber in Büchern, die Schweitzer gelesen hat. Sie befinden sich in der Bibliothek von Günsbach, während die Manuskripte nach dem Willen von Schweitzers Tochter Rhena (heute in den USA wohnhaft) von der Zentralbibliothek Zürich in Obhut genommen wurde. Dies, weil Schweitzer zeitlebens enge Beziehungen in der Schweiz hatte.

Von vielen Werken gibt es verschiedene Fassungen, wofür Zürcher zwei Gründe nennt: Häufig habe Schweitzer Notizen in Europa gemacht; in Lambarene sei er dann weitergefahren, hatte aber das andere betreffende Manuskript oder die Unterlagen nicht dabei. Dann fingt er einfach wieder von vorne an und verfasste neu.

 

Sein Lebensproblem löste er nie

 

Der zweite Grund ist, dass er ein Problem zu lösen versuchte, das ihm nie richtig gelang. So hat er dann stets wieder von vorne angefangen, wie Pfarrer Zürcher feststellen konnte: «Er suchte eine Ethik für die Natur, überhaupt eine Ethik, die alles Leben, Menschen, Tiere, Pflanzen und alle Bedingungen, die dieses Leben ermöglichen, berücksichtigt. Das ist es, was Schweitzer fordert. Indes: Aus der Natur kann man zwar Naturgemässheit lernen, aber nicht Ethik ableiten, denn die Natur ist jenseits von Gut und Böse. Ethik ist eine Angelegenheit des Menschen, der seiner Vernunft- und Denkfähigkeit wegen für sein Tun verantwortlich ist: er kann gut oder böse handeln, kann die Natur (als Lebensgrundlage) und Leben bewahren oder zerstören. In der Natur aber geschieht alles gemäss ihrer Gesetzlichkeit.»

Dieser Grundgedanke ist schon in seinen bereits publizierten Büchern nachzulesen. Er beruht auf der Feststellung der unerhörten Diskrepanz, dass in den letzten 200 Jahren das Wissen in der Technik unendlich zugenommen hat - bis zur Atombombe -, und dass nun eigentlich im selben Ausmass auch die Verantwortlichkeit entsprechend wachsen müsste. Der Mensch müsste also in seiner Vernunft, in der Anwendung seiner Erkenntnisse ebenfalls fast übermenschlich handeln. Das ist bekanntlich nicht der Fall...

 

«Zwingende» Ehtik war sein Ziel

 

Diese Diskrepanz beschäftigte ihn. Er suchte deswegen in die ganze Diskussion der heutigen Menschheit Ethik hineinzubringen. Pfarrer Zürcher: «Schweitzer war sich bewusst, die Notwendigkeit einer Ethik darzustellen ist nicht schwer, das begreift jeder, dass eine Ethik nötig ist. Hingegen wusste er, dass es unendlich schwer ist, eine Ethik wirklich so zu begründen, dass sie z w i n g t. Daran arbeitete er intensiv, wie aus seinen Nachlass-Schriften jetzt hervorgeht. Aber es gelang ihm nicht. Gleichwohl ist dies Bemühen heute sehr aktuell», bestätigt der Wissenschafter, «übrigens auch seine Bemühungen um die Entwicklungshilfe: Schweitzer hat ja sein ganzes Werk verstanden als Sühne gegenüber allen Drittweltländern.»

Schweitzer predigte als erster Europäer bereits 1912 in Strassburg: «Seit Jahrhunderten hat Europa, und auch Amerika, Raubbau betrieben an den Völker, an den Ländern, an den Ressourcen.» Und dies noch lange zuvor, als man in Basel noch Negervölker zur Belustigung im Zolli ausstellen liess... «Diese Schuld, die sich der Westen diesen Ländern gegenüber aufgeladen hat, seit Jahrhunderten, müsste man sühnen, korrigieren. Das war sein Bemühen», weiss sein Bibliograph. «Schweitzer wusste, dass er das nicht allein machen konnte, aber er konnte ein Zeichen setzen: Er hat es - in aller Bescheidenheit - so verstanden!»

 

Als «Urwalddoktor» zu Recht vergessen - als Philosoph noch immer aktuell

 

Dass bis zum Jahr 2000 pro Jahr mindestens einer der insgesamt zehn bereits redigierten Nachlassbände herauskommen soll, würde auf den ersten Blick vermuten lassen, dass eine Neubelebung der Legende des «Urwalddoktors» veranstaltet werden soll. Doch Pfarrer Zürcher belegt mit zahlreichen Vortrags- und Dissertations-Schriften jüngsten Datums, dass im Bewusstsein der Öffentlichkeit vielleicht der schnauzbärtige «Urwalddoktor», das Cliché, die «Legende» in Vergessenheit geraten ist - zurecht - aber dass das Interesse bei Philosophen, Theologen und Ökologen ganz im Gegenteil nicht zum Erlahmen gekommen ist.

Die Faszination, die von Albert Schweitzers Universalität ausgeht, scheut Pfarrer Zürcher denn auch nicht, mit jener Goethens zu vergleichen. Gleichwohl aber hat Schweitzer - bei aller Universalität - seine Arbeit sehr geschickt auf ein Zentrum konzentriert. Darin sieht Zürcher die Bedeutung des Universalisten, der in der heutigen Wissenschaft so nicht mehr möglich wäre.

 

Cousin Jean-Paul Sartres

 

Seine Universalität gründet aber auch auf der Tatsache, dass er als Elsässer - als Cousin Jean-Paul Sartres notabene und Verwandter der «Kronenbourg»-Familie Hatt - im Zentrum des Dreiecks der französischen, schweizerischen und deutschen Kultur geboren wurde: er lebte die französische und die deutsche Geisteskultur gleichzeitig, hat aber sein menschliches Mitgefühl in seiner elsässischen Heimat in Kaysersberg, Colmar und Strassburg gewonnen.

Es scheint an der Zeit, auch in der Öffentlichkeit die «Barrikade» des abgenutzten «Urwalddoktor»-Clichés abzubrechen, weil damit der ethisch motivierte Philosoph, Philanthrop und vor allem auch Ökosoph, gesellschaftlich «entschärft» und damit beinahe mundtot gemacht worden ist.

 

Jürg-Peter Lienhard

 

Lesen Sie dazu auch:

Interview mit seinem Biographen Johann Zürcher

Interview mit dem Philosophen Stefan Brotbeck

Lexikographie

 

Die Werke aus dem Nachlass Albert Schweitzers werden vom Verlag C.H. Beck, München, verlegt.

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