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Kostüme

Waggis, Woggis, Wackes: die groteske Verzerrung vergessener Geschichte

Ein Elsässer ist kein Waggis!

Das beliebteste Basler Fasnachtskostüm hat einen sozialen Hintergrund. Woher das Wort « Waggis» stammt.

Von Jürg-Peter Lienhard

 

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Die älteste Abbildung eines Waggis in Basel: Aus dem Stammbuch
der Gymnasiastenverbindung «Paedagogia» 1874. (Depositum im Staatsarchiv Basel)
Für weitere Bilder zum Thema Waggis klicken Sie bitte hier.

 

Er ist eine der beliebtesten Basler Fasnachtsfiguren, wenn nicht gar die beliebteste überhaupt: der «Waggis». Nur vermeintlich ist er «der Elsässer», und schon gar nicht der Neudörfler «Gmiesbuur». Im Elsass, wo er aber gleichwohl als Kind der industriellen Revolution «geboren» worden war, ist sein Ruf noch heute zwielichtig. «Wogges», «Wackes» ist darum bei unseren Nachbarn ein wenig schmeichelhaftes Personenattribut. Wer aber war, oder ist, der «echte Waggis», und warum sind viele Basler Fasnachtsteilnehmer unter den grotesk verzerrten Trachtenkarikaturen auch übers Jahr eben auch «echte Waggis»? Ein Blick zurück auf die jüngste Fasnachts- und Regio-Geschichte mit Jürg-Peter Lienhard

 

Ein Bengel im Umfang fast eines Baumstammes, «veyeletti» Hosen aus teuerstem Samt, eine seidenglänzende Blouse, grell «gäggeligääl», eine Perücke aus veritablen «Schyssybirschtli» und Holzschuhe - selbstverständlich «holländische»: Keine der traditionellen Basler Fasnachtsfiguren hat sich in den kaum 15 bis höchstens 20 letzten Jahren derart vom Vorbild entfernt, wie das «Waggis»-Kostüm. Dem «Dummbeeter», dem «Blätzlibajass» und selbst der «alte Dante», stets auch zur Verhöhnung alter und neuer Suffragetten mit allerlei derben Verzerrungen ausgestattet, beliessen die neuen Fasnachtsdesigner bislang ihre «Identität».

 

Der Ur-Sundgauer Ofenbauer Pierre Spenlehauer in originaler Waggistracht und mit «Munifiesel» auf einem seiner wunderschönen Kachelöfen.
Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2003

 

In den massiven Übertreibungen der einstmals bloss als Karikatur gedachten Kleidung des Waggis, einer vagabundischen Melange der Arbeitstracht der elsässischen Bauern, konkurrenzieren sich Larvenmacher ebenso wie Kostümentwerfer und «Goschdym-Comités» der Cliquen: Je schriller und bunter die Textilien, desto mächtiger geraten die veritablen «Kopfbauten» - denn die Dimensionen der Larven haben sie längst gesprengt. Aus der einstmaligen Trachtenkarikatur ist eine Kostümgroteske geworden, die eine von Protz, Pomp und Formenderbheit diktierte grafische Eigendynamik entwickelt.

 

Frühes «Outfit» noch nicht grotesk verzerrt

 

Die älteste Abbildung eines «Waggis» an der Fasnacht in Basel belegt denn ein anderes «Outfit», wenngleich der abgebildete «Waggis» einen dicken Bengel mit sich schleppt - wie seine modernen Versionen auch. Auf dem Bild aus dem Stammbuch «Gärtli» der verblichenen Gymnasiastenverbindung «Paedagogia» fällt zudem auf, dass der «Waggis» keine Holzschuhe trägt, sondern fast eher elegante Halbschuhe. Was an sich schon ungewöhnlich für die Zeit ist, denn es waren damals eher halbhohe Schnürschuhe, wenn nicht gar Holzschuhe üblich. Die ungeteerten, oder lediglich gepflasterten Gassen waren ja voller Pfützen und Unrat. Darum brauchte nicht erstaunen, dass der «historische» Fasnachts-«Waggis» eine weibliche Kostümierte auf dem Buckel trägt. Wie sich der Nachfahre «echter Waggisse», Pierre Spenlehauer aus Biederthal, zu entsinnen vermag, schleppten zwar die «originalen Waggisse» ihre Weiblein mitunter kurzerhand auf dem Buckel ab - aber wohl kaum aus gentlemanliker Fürsorge um deren «Plunder», wie im Elsass noch heute jede Art Kleider heisst...

Immer noch auf dem historischen Bild bemerkt man beim Weiblein auf dem «Waggisbuckel» eine hocherhobene Gerte oder Rute, die sie in der linken Hand hält, wie ein Reiter, der sein Pferd anspornt. Allem Anschein nach handelt es sich bei der Rute um den sogenannten «Munifiesel», der eigentlich - anstelle des Bengels - in die Hand des «Waggis» gehört. Ausführliches zum «Munifiesel» etwas weiter unten.

Statt einer enormen Perücke trägt der «Waggis» lediglich eine weisse Zipfelmütze, und nur die Nase in der wenig aufregenden Larve deutet die Karikatur ihres lebenden Vorbildes an.

 

1874 das Geburtsjahr des «Fasnachts-Waggis»

 

Interessant ist die Jahreszahl der Veröffentlichung der allerersten Abbildung eines «Waggis»-Fasnächtlers in Basel, nämlich 1874 - also vor knapp 120 Jahren. Das illustriert sehr schön das historisch gesicherte Faktum, dass der «Fasnachts-Waggis» seinen leibhaftigen Prototyp noch nicht lange zum Vorbild haben kann. Tatsächlich ist denn der «echte Waggis» ein «Kind» der industriellen Revolution, die am Oberrhein im Elsass begann und erst fast hundert Jahre später, mit dem Ersten Weltkrieg, in Basel die Vorherrschaft Mülhausens ablöste!

 

Soziale Randfigur

 

Der «echte Waggis» ist eine soziale Randfigur, ein «Produkt» der industriellen Revolution und der rigiden Ausbeutungs-Ideologie des Frühkapitalismus, wie er gleich nach Manchester auf dem Kontinent in Mülhausen Fuss fasste. Die fast explosionsartig sich ausdehnende Textilindustrie und deren «Folgeindustrien» in Mülhausen nach Ende der Revolutionskriege um 1820, erzeugte einen enormen Bedarf an Menschenmaterial, sprich Arbeitskräften. Der «Waggis», so würde man heute sagen, sei der Mensch, der durch die «Maschen des sozialen Netzes» gefallen ist. Nur gab es im Frühkapitalismus keine sozialen Maschen, weil ein soziales Netz gar nicht vorhanden war, respektive erst durch Arbeitskämpfe erstritten werden musste.

Der «Waggis» jedoch war gleichwohl nur im entferntesten Sinne «Opfer». Er war der Vagabund, der Strolch, der Tagedieb - Schnapsbeule, Raufbold und Grossmaul in einem. Unangepasst und verwahrlost und immer mit einem Bein im «Käfig».

Gestrandet als Folge der Verlockungen des industriellen Materialismus, brauchte er sich nur so weit mit Arbeit zu beschäftigen, wie ihn der blosse Hunger dazu zwang. Ein paar Centimes aus der Fabrik machten ihn reicher als viele Bauern, die zwar hart arbeitende Selbstversorger waren, aber kaum Gelegenheit hatten, rares Bares einzunehmen.

 

Eigenheit des Elsass - aber weder Bauer noch Arbeiter

 

Der «Waggis» war kein Bauer, denn er besass weder Grund noch Haus, und er war auch kein Arbeiter, denn er liess sich nicht in den Arbeitsprozess einspannen. Vielmehr war er Gelegenheitsarbeiter, Taglöhner zumal, und ohne festen Wohnsitz. Die Bauern wie die Arbeiter begegneten ihm mit ungeteilter Argwohn.

Immer schon produzierte die Gesellschaft solche Randfiguren und Randgruppen, die dem sozialen oder wirtschaftlichen Wandel nicht zu folgen mochten. So diktierte auch im Elsass die rasch nach der französischen Revolution einsetzende Industrialisierung den Takt des sozialen Fortschritts und der grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen.

Die Figur des «Waggis» blieb jedoch eine Eigenheit des Elsass und ist mit seiner wechselhaften Geschichte untrennbar verbunden. «Geburtswiege» ist zweifelsohne Mülhausen, wo man noch heute vom «Melhüser Waggis» redet.

Ein Elsässer mit Grund und Habe wird es noch heute weit von sich weisen, wenn man ihn auch nur «freundschaftlich» als «Waggis» bezeichnet. Im Gegenteil: «Waggis» ist eine Beleidigung für einen arbeitsamen und familienbewussten Elsässer. Zu jung ist die Vergangenheit des Elsass, dessen Bewohner im Allgemeinen ein weit ausgeprägteres Geschichtsbewusstsein haben, als manche seiner Nachbarn es von sich einbilden.

 

Zum geschichtlichen Hintergrund des Waggis

 

Das Elsass war bis zur französischen Revolution unbehelligtes royalistisches Protektorat, «ma province gérmanique», wie der «Sonnenkönig» Ludwig XIV. bei der Einnahme des ausgebrannten und leergemordeten Elsass 1648 nach dem Dreissigjährigen Krieg proklamierte. Nur Mülhausen war die Ausnahme; es stand als «zugewandter Ort» unter dem Schutz der alten Eidgenossenschaft.

Hinter seinen Mauern wohnten viele Familien, die im 16. Jahrhundert als französische Protestanten nach der Bartholomäusnacht vor der drohenden Verfolgung über das calvinistische Genf in die Schweiz flohen. Im Laufe der Zeit zog diese Hugenotten genannte französische Intelligentsia den
Jura hinauf, wo - nebenbei gesagt - die Ansiedlung der Uhrenindustrie auf ihren innovativen Einfluss zurückzuführen ist.

Auch in der protestantischen Stadt Basel entstand eine Kolonie, die sich vorwiegend in der «Dalbe» niederliess. Mit der Zeit vermischte sich ihr Französisch mit dem einheimischen Alemannisch, aber der sonderbare Klang ihres Idioms grenzte sie sprachlich und sozial von den anderen Bewohnern der Rheinstadt ab.

 

Fasnachtssprache ist die Spottversion des «Baseldytsch»

 

Voilà die Erklärung für die Entstehung des «Dalbaneesisch», das nie die Sprache der gesamten Stadtbevölkerung war, und stets Stoff für den Spott unterer Schichten gegenüber den «Daigaffen», wie man die vornehmen Angehörigen der Kolonialhandels- und Seidenfabrikanten nannte, hergab. So sind auch die Schnitzelbank-Zeilen, ja die ganze Basler Fasnachtssprache zu verstehen: Sie ist die «Spottversion» des vornehmen «Baseldytsch». Für die meisten aktiven Fasnächtler ist es eine Kunstsprache, die sie nicht im Alltag sprechen, für nicht wenige gar eine richtige «Fremdsprache». Und die wenigsten wissen um ihre Entstehung...

Um den Bogen zurückzuspannen nach Mülhausen - der «Ausflug» über Genf sollte ja den geneigteren unter den Lesern den Zusammenhang vermitteln -, konnten die dortigen Hugenottenfamilien ihre ganze Innovationskraft erst entfalten, als Mülhausen als Folge der französischen Revolution in das schon lange französisch gewesene Elsass einverleibt wurde.

 

Mülhausen «explodierte» bevor Basel die Mauern schleifte

 

Das ehedem katholische und arme Hinterland stand plötzlich zur Verfügung. Die Stadt riss ihre Mauern nieder und explodierte förmlich in einer beispiellosen Industrierevolution: Von 1820 bis 1870, also in nur 50 Jahren, entstanden rund 120 Fabriken - zumeist Textilfabriken nach dem Vorbild Manchesters. Deren Prosperität machte weitere Zulieferbetriebe nötig: Ziegelfabriken, die erste französische Lokomotivfabrik, Textilmaschinenfabriken, Mechanik und für die Musterbeschriftung die grafische Industrie sowie die Chemie.

Derweil blieb Basel buchstäblich ein Dorf mit Stadtmauer, und es dauerte fast bis zur Jahrhundertwende, bis hier ein ähnlicher Entwicklungsschub stattfand. Dieser wurde erst noch durch Mülhausen ausgelöst, das aus patentrechtlichen Gründen die in England erfundenen Anylin-Textilfarbstoffe nicht herstellen durfte. Die Mülhauser Textilbarone liessen darauf kurzerhand die neuen chemischen Farben von ihren Vettern in Basel herstellen: die Basler Chemie war gegründet.

 

Basel prosperierte erst nach dem Ersten Weltkrieg

 

Mülhausens Wirtschaft bekam voll die zerstörende Zäsur des Ersten Weltkrieges zu spüren und Basel lief ihm von da ab den Rang ab. Nochmals erlitt Mülhausen einen gewaltigen wirtschaftlichen Rückschlag als Folge des Zweiten Weltkrieges, von dem es sich erst in den siebziger Jahren zu erholen vermochte. Aber gleichwohl hat Mülhausen seine einstmalige überragende industrielle Vormachtstellung am Oberrhein fast ganz verloren und unbestritten an Basel abgetreten.

Die Industrie-Prosperität Mülhausens, die bis zum Ersten Weltkrieg dauerte, führte zu einer riesigen Nachfrage an Arbeitskräften, die zumeist aus der ländlichen Agglomeration rekrutiert wurden. Die Vorstädte entstanden und mit ihnen das Grund- und mittellose Proletariat - die «Wiege» des Waggis.

 

Spanische Renaissance

 

Viele Basler Fasnachtskostüme um die Jahrhundertwende sind auf die Arbeits- und Sonntagstrachten der umliegenden Landschaft zurückzuführen. Liebend gerne wurden damit die Nachbarn karikiert oder gar verspottet. Zumal die Elsässerinnen mit ihren üppig ausstaffierten Landtrachten - da katholisch - und die Bauern mit ihren Holzschuhen gegenüber der puritanisch bescheidenen Kleidungen der protestantischen Basler auffielen und im Stadtbild allgegenwärtig waren.

Und natürlich eignete sich die «Waggis»-Kluft wie keine andere, um die Elsässer zu necken, war für sie doch ihr «Waggis» ein Vagabund. Denn der Waggis trug die im Elsass übliche blaue Arbeitstrachtenbluse, die er nicht selten als Lumpenstück bei einer seiner Gelegenheitsarbeiten auf einem Bauernhof zum Austragen geschenkt bekam.

Äusserlich mochte sich die Arbeitskleidung des Bauern und des «Waggis» sehr wohl ähneln, aber bei näherem Hinschauen liessen sich wohl deutliche Qualitätsunterschiede feststellen. Übrigens gehen alle Trachten auf die spanische Renaissance zurück und sind im Prinzip «stehengebliebene Mode», weil das teure Silbergeschmeide, die goldgewirkten Hauben und die aufwendigen Stickereien von Generation zu Generation fast unverändert vererbt wurden.

 

Arbeitstracht der Patrons wurde vom Waggis ausgetragen

 

Die Arbeitstracht des elsässischen Bauern in unserer Gegend - im Nordelsass wiederum stark abweichen - bestand aus der hellen oder schwarzen Zipfelmütze, aus einer über der Hose getragenen blauen Leinenbluse mit gestickten Kragenbordüren und schwarzen Leinenhosen. Unter der Bluse schaute ein «Vatermörder» geheissener Kragen aus der Biedermeierzeit hervor, der mit einer Mülhauser Textilspezialität zugebunden war: Ein buntes Halstuch, teils mit exzellenten zeitgenössischen Mode-Mustern bedruckt. An den Füssen trug er Holzschuhe, die in handgestrickten Socken steckten und das Ringelmuster aufwiesen, welches gerade von der Farbe der Wolle zustandekam.

Im Gegensatz dazu trug der «Waggis» die ausgetragene Arbeitsbluse eines vergangenen Arbeitgebers auf dem Hof. Das Halstuch um den Vatermörder, war sowieso nicht sauber, und die Hosen waren aus derbem, ungebleichtem Drillich - mal zu weit, mal zu kurz - so dass die geringelten Strickmuster der Socken deutlich zu sehen waren. Und auch die Holzschuhe fehlten nicht, zumeist im Sundgau bis nach dem Zweiten Weltkrieg die übliche Fussbekleidung.

 

Ein fürchterliches Utensil: der «Munifiesel»

 

Ein wesentliches Utensil aber zeichnete den «Waggis» besonders aus, obwohl er es meist hinten in der Hose versteckt hielt, um es beim geringsten Anlass hervorzischen zu lassen: Der «Munifiesel», oder Stierennerv geheissene Harnleiterstrang des Ochsen. Er ist eine mörderische Waffe, wenn man ihn nach dem Schlachten in frischem Zustand der Länge nach spaltet, mit einem Stein beschwert aufhängt, mitsamt dem Gewicht dreht, bis er eine gewundene Form annimmt. Nach dem Trocknen ist er ein elastischer, rutenförmiger Schlagstock, wovon ein einziger Hieb genügt, um einen Raufkumpan mehr als kampfunfähig zu machen. Manche «Waggisse» haben zur Erhöhung der Wirkung gar noch einen Fünfmillimeter-Draht miteingewunden, wodurch etwelche Verletzungen noch gefährlicher als eine Revolverwunde werden konnten...

Beim «Waggis»-Fasnachtskostüm kam noch die Larve dazu, die ursprünglich der italienischen Commedie dell'arte entlehnt wurde, also ohne groteske Züge. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm sie «charakteristische» Formen bis zur heutigen Verzerrung an.

 

Zur Etymologie des Wortes «Waggis»

 

In der deutschen Zeit des Elsass brachte im Jahr 1877 die literarisch-satirische Zeitschrift «Gartenlaube» eine Erklärung des elsässischen Schimpfwortes «Waggis», die zu verschiedenen Deutungen Anlass gegeben hat. Die Stelle, welche F.A. Stocker, Redaktor der damaligen «Basler Nachrichten» in seinem heimatkundlichen Jahrbuch «Vom Jura zum Schwarzwald» wiedergab, lautet wörtlich:

«Das Elsass ist, wie kein zweites Land, äusserst reich an Provinzialismen, welche für uns Norddeutsche schwer zu verstehen und noch schwerer zu erklären sind. Hievon nur ein Beispiel. Will der Elsässer einen Gegner zum Streit veranlassen, so ruft er ihm zu: „Wax!“ (bisweilen auch„Wox!“). Es scheint dies eine Art Herausforderung zu sein. Lange hat man keine Erklärung dieses fremdklingenden Wortes gefunden; es ist aber jetzt festgestellt, dass es eine Zusammenziehung der beiden Worte: Wage es (mich anzugreifen, mir nahe zu treten usw.) ist. Es ist somit das Wort„Wax“ nicht zu den Substantiven, wie sehr oft behauptet wird, sondern zu den Ausrufs- (Empfindungs-)Wörtern oder Interjektionen zu rechnen.»

Darauf antwortete ein Einsender in den «Basler Nachrichten»: «Man weiss wirklich nicht, was bei diesem Sprachkundigen mehr zu bewundern ist: die Erfindungsgabe oder die Unverfrorenheit, mit der er seine Hirngespinste dem Publikum auftischt. Da aber sehr viele Elsässer selber nicht wissen, woher der„Waggis“ stammt, folgt hier die„richtige“ Erklärung: Die Bewohner des „Wasgaues“ oder Vogesen wurden nach dem Gebirge Wasgauer genannt. Aus Wasgauer entstand unser jetziges Woggis oder Waggis. Da aber jenes Kulturvolk nicht sonderlich von der Kultur beleckt wurde, überhaupt als Holzfäller und Kohlenbrenner sich etwas rauhe Sitten angeeignet hatten, so wurde „Waggis“ identisch mit einem rohen, ungebildeten Menschen. Ein anderer Beurtheiler des Wortes „Waggis“ sagt, dass das Wort von „Vagus“ herstamme, einer vormals gerichtlichen Bezeichnung, die Landstreicher, Strolch bedeute, wie auch der im Elsass ebenfalls sehr beliebte synonyme Ausdruck ähnlichen Ursprungs „Wackebum“ (von Vagabundus, Vagabond).»

 

Vagabund ist Wortstammhalter

 

Mit dieser Ansicht stimmte ein weiterer Leser der «Basler Nachrichten», ein Elsässer mit überein, indem er schrieb: «Vagabund ist der Stammvater von „Waggis“. Im Nieder-Elsass (Strassburg), wo man, wie überall im Zorne, leicht einige Konsonanten verschluckt und gerne abkürzt (damit der andere desto schneller weiss, was man von ihm denkt), wurde daraus „Waggebum“; mit der Zeit wurden zornige Leute noch praktischer und betitelten denjenigen, der seinen Zorn und seine Verachtung empfinden sollte, einfach mit „Wagges“ - im Oberelsass (Mülhausen) „Waggis“.

Das Wort „Wagges“ ist erst in den Dreissiger Jahren (im 19. Jahrhundert, der Autor) entstanden, da es weder im „Pfingstmontag“, noch im Luststück „Daniel“, noch im elsässischen „Neujahrsbüchlein vom Vetter Daniel“ vorkommt. Im Druck erscheint es zuerst am Ende der Dreissiger Jahre und zwar in einem humoristischen französischen Sittenbilde: „Physionomie du Wagges“, in Dambachs „Wochenblatt“. Die Endsilbe „es“ gibt dem Worte eine verächtliche oder tadelnde Bedeutung, die sich auch in anderen Ausdrücken zeigt, wie in: „Sozies“ oder „Zozies“, „Haschges“, „Staches“, „Bingges“ usw.»

Voilà: jetzt wissen wirs. Der Basler Fasnächtler dürfte indes unschwer erkennen, welche der beiden Versionen die zutreffendere ist. Auf jeden Fall ist es nur zu verständlich, dass das weiter entfernte Norddeutschland einen eher erschwerten Zugang zu den Quellen unserer Region findet.

 

Von Jürg-Peter Lienhard


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PS: Wie empfindlich Elsässer reagieren können, wenn man sie «Waggis» betitelt, lesen Sie auf der Seite der Strassburger Robert-Schuman-Universität: Mehr…

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