Intelligenztourismus:
Entdeckungsreise ins Elsass
Ein Trend wider Staus und Herdentiere
42 Kilometer von Basel wird «Live-Museum»
pur geboten - ohne mit didaktischer Aufdringlichkeit zu langweilen.
Von Jürg-Peter Lienhard
Bald kennt man Bangkok oder die Seychellen
wie den eigenen Hosensack. Ein Steinwurf von Basel, eine Stunde
von Zürich, hat man aber Exotik gleich vor der Haustüre:
das Elsass. Auf dem Weg zur Weinstrasse findet man das elsässische
Freilichtmuseum Ecomusée d'Alsace - ein Museums-Dorf
à la Française. Der Besuch gibt einen lebendigen und
unterhaltsam gestalteten Einblick in die Zivilisationsgeschichte am
Oberrhein. Intelligente Touristen erwartet dort Erlebnis ohne
Bildungsstress und voll witziger Anspielungen auf die hektische
Gegenwart.
Staus am Gotthard, Schrittempo in der Leventina,
nichts geht mehr auf den ewigen Baustellen der Nationalstrassen,
am Hauenstein und im Mittelland ebenso wie beim Nadelöhr
am Walensee. Und bald kommts noch schlimmer: Ferien in St-Tropez,
noch vor 30 Jahren ein Privileg, sind heute ein Fast-Food-Camping-Entsorgungsproblem.
Philosophen und kritische Tourismus-Ökologen warnten indes
schon vor Jahrzehnten: dass der Massentourismus die Sache,
für die er ins Leben gerufen wurde, erbarmungslos selbst
zugrunde gehen lässt.
Faszinierendes Ecomusée d'Alsace
Was gibt es da für Alternativen, klügere Ideen und
gut durchdachte Entschlüsse - «Intelligenztourismus»,
wie der Basler Historiker Markus Kutter einmal treffend gefordert
hat: Leute, die bereit sind, das Abenteuer der Erkundung ihrer
gewiss unbekannten näheren Umgebung auf sich zu nehmen.
Ohne Staustress, ohne überfüllte Airterminals oder
Restaurants und ohne sich gaffend gehen zu lassen, sondern lernend
teilzunehmen. Man wird nicht spediert und animiert, sondern man
entdeckt selber. Und wie:
15 Kilometer nördlich von Mülhausen, insgesamt nur
42 Autokilometer von Basel, ist schon seit über zehn Jahren
eine Institution in Betrieb, die vom Ehrgeiz beseelt ist,
diesem sanften «Intelligenztourismus» ein Ziel
zu schenken. Ecomusée d'Alsace heisst sie und hat nicht nur eine
faszinierende Entstehungsgeschichte hinter sich, die in nichts
den genialen Pioniertaten der oberrheinischen Industriegründer
nachsteht - sie bietet heute in der Hochsaison 165 Menschen
einen Arbeitsplatz -, sondern sie hat auch eine eigene Philosophie,
die dem Besucher zwar nirgends direkt auf die Nase gebunden
wird, deren atmosphärischer Stimmung sich aber kaum jemand
nicht hingeben mag.
Die Fahrt ins Elsass - seis im Auto, seis mit dem Velo - lässt
zumeist fraglos vorbeiflitzen, was zur Geschichte, zur Kultur,
zu unserer näheren und doch so fremden Heimat-Umgebung
gehört. Aber auch im Elsass ist ja das, was man so Fortschritt
nennt, in den letzten Jahrzehnten «fortgeschritten».
Wo einst ganze Dörfer ein unverwechselbares «Gesicht»
aus Riegelhäusern, Scheunen und Obstgärten richtiggehend
zur Schau trugen, sind jetzt Tankstellen, Gewerbezonen und
Einkaufszentren angesiedelt.
Vor 20 Jahren krempelten Junge Leute die Ärmel hoch
Die jungen Leute um den Museumsgründer Marc Grodwohl haben
vor etwas mehr als zwanzig Jahren die Entwicklung vorausgeahnt
und die gut demontierbaren, weil als «Fahrhabe»
so gebauten, Fachwerkhäuser ins künftige Ecomusée
d'Alsace gezügelt. Bei der Eröffnung im Juni 1984
waren erst 19 Häuser aufgebaut, und heute sind es fast siebzig Gebäude
- das Ecomusée d'Alsace hat sich während seines
zehnjährigen Bestehens gut um fast das Vierfache vergrössert.
Daneben entstanden ganze Landschaften, wie der Natur- und
Vogelschutzpark im mäanderähnlichen Ausfluss des Gewerbekanals,
der die mächtige Sägemühle antreibt. Oder die
Musteräcker- und Gärten, welche die Entwicklung der
Landwirtschaft von der Dreifelderwirtschaft bis zum Einzug
der Mechanik aufzeigt und auf einem überraschungsvollen
landwirtschaftlichen Lehrpfad begangen werden können.
Ein Hotel-Dorf aus alten Bauernhäuser
Tiere leben im Dorf, Geflügel, Ziegen, Pferde und Ochsen
werden gebraucht und lassen mitunter höchst authentisch
das fallen, was ein städtischer Sonntagsschuh schon lange
nicht mehr erwartet. Überwältigend ist die Präsenz
ganzer Storchenfamilien, die flügelschlagend die Dächer
umkreisen und klappernd auf den First-Nestern stehen.
Ein Hotel-Dorf und eine Festhalle mit 800 Bankettplätzen
sind aus «wiederbelebten» ehemaligen Bauernhäusern
vor dem eigentlichen Freilichtmuseum entstanden. Drei Restaurants
bieten nicht minder Authentisches aus der elsässischen
Küche. Wer Lust hat auf ein Glas «Crémant»,
dem schäumenden elsässischen Edelgetränk, kann es bei
atmosphärischer Orgelmusik an der Bar des Salon-Karussells
«Demeyer» aus der «Belle Epoque» um
1900 geniessen. Dieses spiegelverzierte und tausendfach beleuchtete
Jahrmarkt-Fahrgeschäft ist das Bindeglied zwischen dörflichem
Kern, der mit dem mittelalterlichen und die Silhouette dominierenden
Wohnturm beginnt, und dem Gewerbe- und Industriequartier, das
zwar noch im Aufbau begriffen ist, aber dereinst bis zur mächtigen
Industrieruine der stillgelegten Kalimine «Rodolphe
II» fortgesetzt werden und somit die Verbindung zur allerjüngsten
elsässischen Vergangenheit herstellen soll.
Es wird gebacken, gekeltert, gehackt, geschmiedet...
Die Bewahrung und Wiederbelebung alter Handwerke wird gezeigt.
Wie bäckt man Brot, bemalt Papier, keltert Wein, hackt
Holz, schmiedet Nägel, verarbeitet Kräuter? In der
Hauptsaison von April bis Ende November wird jeden Sonntag
und an Feiertagen ein anderes Thema angegangen. Alte Fachleute,
die noch mit den Maschinen und Geräten gearbeitet haben,
Zimmermanns- und andere Handwerker-Innungen sowie Bauern und Weinleute
kommen jeweils zum entsprechenden Thema gerne und als idealistisch
Mitwirkende zum Einsatz, während an den Wochentagen die
Ausstellungen bis zum nächsten Sujet bestehen bleiben.
Etwas ganz Neues ist im Ecomusée d'Alsace verwirklicht
worden: Dorf und Museum, Werkstätten und Anlagen werden
nicht für die Leute, sondern mit den den Leuten betrieben.
Der Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart bleibt
für den Aufmerksamen kein Geheimnis mehr in diesem zukunftsorientierten
Museum für die Zvilisationsgeschichte am Oberrhein vom
Mittelalter bis zur Gegenwart.
Von Jürg-Peter Lienhard
Info:
Hauptseite des
Ecomusée d'Alsace (französisch)
Hotel
des Ecomusée d'Alsace mit Reservationsformular (französisch)
Wie man hinkommt:
Das Ecomusée d'Alsace erreicht man mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln von Basel aus mit der französischen Bahn
ab Hauptbahnhof Basel bis Mulhouse und von dort per Bus Richtung
Guebwiller (Linie 636 im Regio-Fahrplan - zu beziehen an den
Postschaltern der Region Basel oder Auskunft bei den Basler
Verkehrsbetrieben, BVB).
Im Privatwagen beträgt die reine Fahrzeit ab Autobahnzoll
zirka 42 Minuten (oder 42 Kilometer) auf der Autobahn A35 Richtung
Mulhouse, Abzweigung Richtung Colmar/Strasbourg, Ausfahrt
Ensisheim/Ecomusée der Lokalbeschilderung folgen.
Das Ecomusée d'Alsace ist für das Individual-Publikum
täglich geöffnet, aber je nach Jahreszeit zu verschiedenen
Öffnungszeiten. Gruppen können auf Voranmeldung auch
ausserhalb der Öffnungszeiten empfangen und verpflegt
werden. Telefonische Auskünfte: Tel. 003389 74 44 74, Fax
003389 48 15 30. Postadresse: Ecomusée d'Alsace, F-68190 Ungersheim.
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